Schau Dich Nicht Um
müssen, ihr vielleicht Blumen und einen kurzen Dankesbrief schicken müssen. Und was sollte sie schreiben? Danke für die Erinnerungen? Danke für nichts? Danke, aber nein danke?
Ich denke, wenn du sie wirklich loswerden willst, hörte sie Stephanie Banack sagen, mußt du dich mit den tieferliegenden Problemen auseinandersetzen, die diese Attacken auslösen .
Es gibt keine tieferliegenden Probleme, sagte sich Jess eigensinnig, während sie sich dem nächsten Tisch näherte, auf dem die eleganten Schuhe ausgestellt waren. Es gab nur ein Problem, und sie wußte genau, was für ein Problem das war.
Rick Ferguson.
Selbstverständlich war er nicht der erste Verbrecher, der ihr gedroht hatte. Haß, Beschimpfungen und Drohungen gehörten
praktisch zu ihrem Beruf. In den letzten beiden Jahren hatte sie eine Weihnachtskarte von einem Mann erhalten, den sie für zehn Jahre hinter Gitter gebracht hatte. Er hatte ihr gedroht, sich an ihr zu rächen, sobald er wieder auf freiem Fuß sei. Mit den Weihnachtskarten, die auf den ersten Blick so harmlos wirkten, wollte er sie auf seine nicht allzu subtile Art daran erinnern, daß er nicht vergessen hatte.
Tatsächlich wurden solche Drohungen selten wahrgemacht. Sie wurden geäußert; sie wurden entgegengenommen; sie wurden früher oder später vergessen. Von beiden Seiten.
Bei Rick Ferguson lag die Sache anders.
Der Mann ihrer Träume, dachte sie ironisch in Erinnerung an den Alptraum, der stets damit begann, daß sie verzweifelt nach ihrer Mutter suchte und am Ende den Tod fand. Irgendwie war es Rick Ferguson gelungen, sie in ihren geheimsten Tiefen zu treffen und lang verdrängte Ängste und Schuldgefühle wieder hervorzurufen.
Ängste, ja, dachte Jess. Sie nahm einen glänzenden schwarzen Lacklederschuh in die Hand und drückte seine Spitze so fest, daß sie spürte, wie das Leder unter ihren Fingern brach. Aber keine Schuldgefühle. Wofür hätte sie sich schuldig fühlen sollen? »Mach dich nicht lächerlich«, murmelte sie unterdrückt, als ihr wiederum Stephanie Banacks Worte ins Gedächtnis kamen. »Es gibt keine tieferliegenden Probleme.« Sie begann, mit dem spitzen Pfennigabsatz auf ihre Handfläche zu schlagen.
»He, seien Sie vorsichtig«, rief jemand neben ihr. Eine Hand ergriff die ihre und hielt sie fest. »Das ist ein Schuh, kein Hammer.«
Jess starrte zuerst in ihre mißhandelte Handfläche, dann sah sie den zerknautschten Schuh in ihrer anderen Hand an, und schließlich blickte sie in das Gesicht des Mannes mit dem hellbraunen Haar und den braunen Augen, dessen Hand leicht auf ihrem Arm lag. Auf dem Namensschild am Revers seines dunkelblauen Sakkos stand der Name Adam Stohn. Weißer, Anfang bis Mitte Dreißig, ein Meter
achtzig groß, ungefähr achtzig Kilo, faßte sie im stillen zusammen, als läse sie aus einem Polizeibericht ab.
»Oh, das tut mir leid«, sagte sie. »Ich bezahle sie natürlich.«
»Um den Schuh mache ich mir weniger Sorgen.« Er nahm ihn ihr behutsam aus der Hand und stellte ihn wieder auf den Tisch.
Jess sah, wie der hochhackige Schuh einen Moment hin und her wackelte, dann umkippte wie abgeschossen. »Aber ich habe ihn ja offensichtlich ruiniert.«
»Ach, mit ein bißchen Pflegemittel und einem Schuhspanner kriegen wir das schon wieder hin. Was ist mit Ihrer Hand?«
Sie schmerzte, wie Jess feststellte, und in ihrer Mitte war ein kreisrunder roter Fleck. »Die wird schon wieder.«
»Sieht fast aus wie ein kleiner Bluterguß.«
»Ach, lassen Sie nur. Es ist nichts«, versicherte sie, als sie sah, daß er wirklich besorgt war. War der Laden haftbar?
»Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«
Jess schüttelte den Kopf.
»Ein Bonbon?« Er zog ein in rot-weiß gestreiftes Papier eingewickeltes Bonbon aus seiner Tasche.
Jess lächelte. »Nein danke.«
»Wie wär’s mit einem Witz?«
»Seh ich so verzweifelt aus?« Sie spürte, daß er sie nicht sich selbst überlassen wollte.
»Sie sehen aus, als würde Ihnen ein netter Witz guttun.«
Sie nickte. »Da haben Sie recht. Also erzählen Sie.«
»Etwas Braves oder lieber ein bißchen gewagt?«
Jess lachte. »Na wenn schon, denn schon.«
»Also gut, leicht gewagt.« Er hielt einen Moment inne. »Ein Mann und eine Frau liegen gerade miteinander im Bett, als sie jemanden die Treppe heraufkommen hören. Die Frau ruft erschrokken, ›Mein Gott, das ist mein Mann!‹ Ihr Liebhaber springt augenblicklich zum Fenster hinaus in ein Gebüsch. Und da sitzt er nun,
splitterfasernackt,
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