Schau Dich Nicht Um
Verwirrt. Und sie würde sich verraten fühlen.«
»Sind das auch deine Gefühle?«
»Ich rede davon, wie meine Mutter sich meiner Meinung nach fühlen würde.«
»Du glaubst also nicht, daß deine Mutter gewollt hätte, daß Maureen eine Familie gründet?«
»Das meine ich nicht.«
»Was meinst du denn?«
Jess blickte zur Decke hinauf, dann zum Fenster hinüber, richtete schließlich ihren Blick auf die Frau, die ihr gegenübersaß. »Hör mal, du erinnerst dich doch bestimmt, wie außer sich meine Mutter war, als ich ihr damals sagte, daß ich Don heiraten würde...«
»Das waren aber ganz andere Umstände, Jess.«
»Wieso? Inwiefern waren sie anders?«
»Nun, zum einen warst du noch sehr jung. Don war wesentlich älter als du. Er arbeitete bereits als Anwalt in einer Kanzlei. Und du hattest gerade dein zweites Semester Jura hinter dir. Ich glaube nicht, daß deine Mutter gegen die Heirat an sich war; es war der Zeitpunkt, mit dem sie Probleme hatte.«
Jess begann, den durchsichtigen Lack auf ihren Fingernägeln abzuziehen. Sie sagte nichts.
»Maureen hingegen war fertig mit ihrer Ausbildung«, fuhr Stephanie fort. »Sie stand fest und sicher auf eigenen Füßen, als sie
Barry kennenlernte und dann heiratete. Ich glaube nicht, daß eure Mutter etwas gegen ihre Entscheidung gehabt hätte, dem Berufsleben eine Weile den Rücken zu kehren, um Kinder großzuziehen.«
»Ich sag ja auch gar nicht, daß meine Mutter was dagegen gehabt hätte, daß Maureen heiratet und Kinder bekommt«, stellte Jess ärgerlich fest. »Sie hätte bestimmt nichts dagegen gehabt. Meine Mutter fand es herrlich, Kinder zu haben. Sie war gern verheiratet. Sie hatte es sich zum Ziel gemacht, die beste Ehefrau und Mutter zu sein, die man sich wünschen konnte. Aber -«
»Aber was?«
»Aber für ihre Töchter wollte sie mehr«, sagte Jess. »Ist das so schlimm? Muß man ihr das übelnehmen?«
»Das kommt darauf an, was die Tochter selbst will.«
Jess drückte einen Moment die Finger ihrer rechten Hand auf ihre Oberlippe und wartete, bis ihr Herz sich beruhigte, ehe sie wieder sprach. »Aber ich bin eigentlich nicht hergekommen, um mich über Maureen oder meine Mutter zu unterhalten.«
»Warum bist du denn hergekommen?«
»Das weiß ich eigentlich gar nicht.«
Einen Moment blieb es still. Zum ersten Mal bemerkte Jess die Uhr auf Stephanies Schreibtisch. Sie sah, wie der Minutenzeiger zum nächsten Teilstrich vorrückte. Wieder eine verlorene Minute. Verlorene Zeit. Sie dachte an all die Dinge, die sie zu erledigen hatte. Um halb zwei hatte sie einen Termin in der Gerichtsmedizin; um drei hatte sie einen Augenzeugen des Armbrustmords in ihr Büro bestellt; um vier hatte sie eine Besprechung mit mehreren Polizeibeamten. Sie hätte diese kostbare Mittagsstunde nutzen können, um sich vorzubereiten. Statt dessen saß sie hier und vertat die Zeit.
»Was hast du gestern abend, als du mich anriefst, gerade getan?« fragte Stephanie Banack.
»Wie meinst du das, was ich getan habe?«
Stephanie schien einen Moment verwirrt. »Das ist doch eine ganz
klare Frage, Jess. Was hast du gestern abend getan, bevor du mich angerufen hast?«
»Nichts.«
»Nichts? Und da hast du dir aus heiterem Himmel plötzlich gedacht, ach, ich hab Stephanie Banack jahrelang nicht mehr gesehen, ich glaub, ich ruf sie mal an?«
»So ungefähr.«
Wieder Schweigen. »Jess, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht einmal eine Chance dazu gibst.«
Jess wollte sprechen und konnte nicht.
»Jess, warum hast du deine Schwester nach meiner Nummer gefragt?«
»Das habe ich gar nicht getan.«
»Also hat sie dir vorgeschlagen, mich anzurufen?«
Jess zuckte die Achseln.
»Warum?«
»Das mußt du schon sie fragen.«
»Jess, vielleicht ist es die Tatsache, daß ich mit deiner Schwester befreundet bin, die dir in dieser Situation Schwierigkeiten macht. Glaub mir, alles, was du hier sagst, wird von mir streng vertraulich behandelt. Aber vielleicht wäre es dir lieber, wenn ich dir jemand anders empfehle...«
»Nein«, sagte Jess schnell. »Es hat nichts mit dir zu tun. Es liegt an mir.«
»Dann erzähl mir von dir«, sagte Stephanie Banack mit freundlicher Aufforderung.
»Ich bekomme manchmal diese Angstanfälle.«
»Was meinst du mit Angstanfällen?«
»Panikgefühle.«
»Wie äußert sich das, wenn du diese Gefühle bekommst?«
Jess senkte den Blick und starrte in ihren Schoß. Die abgeblätterten Nagellackfetzen lagen wie glitzernde Pailletten auf
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