Schau Dich Nicht Um
Sie war ja offensichtlich total plemplem.
»Es war wahrscheinlich ein Fehler«, hörte sie sich sagen, befremdet sogar vom Klang ihrer eigenen Stimme.
»Was?«
»Hierherzukommen.«
»Warum sagst du das?«
Jess schüttelte den Kopf, ohne zu antworten.
»Jess, nun bist du schon mal da, warum setzt du dich nicht? Du brauchst mir nichts zu sagen, was du nicht sagen willst.«
Jess nickte, aber sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Als du gestern abend angerufen hast«, sagte Stephanie Banack vorsichtig, »wirktest du sehr erregt.«
»Ich habe überreagiert.«
»Worauf?«
Jess zuckte die Achseln. »Das weiß ich selber nicht genau.«
»Du hast mir eigentlich nie den Eindruck gemacht, als wärst du jemand, der zu Überreaktionen neigt.«
»Vielleicht war ich damals auch nicht so.«
»Vielleicht war es auch diesmal keine Überreaktion.«
Jess trat zögernd ein paar Schritte weiter in den Raum und berührte das weiche Leder des Ruhesessels. »Hast du mit Maureen gesprochen?«
»Wir telefonieren im allgemeinen jede Woche einmal miteinander.«
Jess zögerte. »Ich meine, hat sie mit dir gesprochen?«
Stephanie Banack neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Jess fühlte sich an einen freundlichen Cockerspaniel erinnert. »Ich verstehe die Frage nicht ganz.«
»Über mich«, erklärte Jess. »Hat sie mit dir über mich gesprochen?«
»Sie erwähnte vor einigen Wochen, daß du möglicherweise anrufen würdest«, antwortete Stephanie Banack. »Sie sagte, du hättest einige Probleme.«
»Hat sie dir auch gesagt, was für welche?«
»Ich glaube nicht, daß sie das weiß.«
Jess kam um den großen Ruhesessel herum, ließ sich langsam in das weiche Leder sinken, hatte das Gefühl, daß es sie umschloß wie eine wärmende Hand. Der Sessel folgte ihren Bewegungen, ein Fußpolster kam wunderbarerweise ihren Füßen entgegen, als der Sessel sich nach rückwärts neigte. Jess hob ihre Füße und legte sie dankbar auf dem Polster ab. »Das ist ein toller Sessel.«
Stephanie Banack nickte.
»Und - was für einen Eindruck macht dir meine Schwester dieser Tage?« fragte Jess, die sich sagte, da sie sich nun schon einmal gesetzt habe, könnte sie auch freundlich sein und ein wenig Konversation machen.
»Es scheint ihr blendend zu gehen. Die Mutterrolle paßt zu ihr.«
»Findest du?«
»Du nicht?«
»Ich finde es eigentlich Verschwendung.« Jess sah zum Fenster. »Ich meine, natürlich finde ich nicht, daß es Verschwendung ist, Kinder großzuziehen«, erläuterte sie. »Aber jemand mit Maureens Intellekt und ihren Fähigkeiten, ganz zu schweigen von der Stellung, die sie aufgegeben hat - na ja, so ein Mensch sollte doch mehr aus seinem Leben machen, als den ganzen Tag Säuglinge zu wickeln und nach der Pfeife des Ehemanns zu tanzen.«
Stephanie Banack beugte sich vor. »Du findest, Maureen tanzt nach Barrys Pfeife?«
»Du nicht?«
Stephanie Banack lächelte. »Das ist mein Text.«
»Ich meine, meine Eltern haben ihr doch bestimmt nicht jahrelang das Studium bezahlt - und du weißt ja, wie teuer Harvard ist, auch wenn man einen Zuschuß bekommt -, nur damit sie dann alles hinschmeißt.«
»Glaubst du, euer Vater ist enttäuscht?«
»Ich weiß es nicht.« Jess blickte zu Boden. »Wahrscheinlich nicht. Er ist selig über seine Enkelkinder. Außerdem würde er sich nie was anmerken lassen, selbst wenn er enttäuscht wäre.«
»Und eure Mutter?«
Jess spürte, wie ihr Rücken sich verkrampfte. »Wie meinst du das?«
»Nun ja, du hast doch angedeutet, daß eure Eltern mit Maureens Entscheidung nicht glücklich wären...«
»Ich hab gesagt, ich glaube nicht, daß sie ihr jahrelang das Studium bezahlt haben, damit sie dann zu Hause bleibt und Kinder in die Welt setzt.«
»Was glaubst du, wie eure Mutter es sehen würde?«
Jess drehte den Kopf zur Seite und drückte ihr Kinn zur Schulter hinunter. »Die wäre wütend.«
»Wieso?«
Jess’ Füße auf dem Fußpolster zuckten ungeduldig.
»Na hör mal, Stephanie, du warst doch selbst dauernd bei uns. Du hast meine Mutter gekannt. Du weißt, wie wichtig es für sie war, daß ihre Töchter eine gute Ausbildung bekommen, damit sie es im Leben zu etwas bringen und auf eigenen Füßen stehen können.«
»Eine Frau, die ihrer Zeit voraus war. Ja, ich weiß.«
»Na also, dann müßtest du doch wissen, wie sie sich angesichts von Maureens Leben fühlen würde.«
»Wie würde sie sich denn fühlen?«
Jess suchte nach den richtigen Worten. »Sie wäre zornig.
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