Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
hineingehen.«
    Sie hielt Jess die Tür auf, und Jess trat tapfer, mit angehaltenem
Atem, in die Praxis. Sie brauchte jetzt nur ein paar Sekunden zu warten, bis sie sicher sein konnte, daß die Sprechstundenhilfe weg war, dann konnte sie wieder gehen. Sie würde unten auf der Straße von einer öffentlichen Zelle aus bei Stephanie Banack, M. A., Dr. phil., Dr. med., anrufen und ihr sagen, daß eine Beratung nun doch nicht erforderlich sei. Niemand brauchte ihr zu sagen, daß sie verrückt war; das hatte sie schon ganz allein herausgefunden. Unnötig, Stephanie Banacks Zeit zu verschwenden. Unnötig, daß sie auf ihr Mittagessen verzichtete.
    Das Vorzimmer war gar nicht übel, wie Jess feststellte, während sie in den Flur hinaushorchte, um das Öffnen und Schließen der Aufzugtür nicht zu überhören. Wände und Teppich waren in einem weichen Grau gehalten, die beiden Sessel an der einen Wand hatten einen Bezug in frischem Minzgrün mit grauen Streifen. Auf einem niedrigen Glastisch lagen die neuesten Nachrichtenmagazine und Modejournale. Der Schreibtisch der Sprechstundenhilfe, auf dem ein Computerbildschirm stand, war aus hellem Eichenholz. Mehrere Calder- und Miró-Poster zierten die Wände, und neben einem schmalen Wandschrank hing ein langer Spiegel. In der Ecke neben dem Fenster stand eine große Grünpflanze. Alles in allem sehr freundlich und einladend. Sogar beruhigend.
    »Ich muß hier raus«, sagte Jess zu sich.
    »Jess, bist du das?« Die Stimme aus dem anschließenden Raum war klar, freundlich, bestimmt.
    Jess sagte nichts. Ihr Blick war auf die halb geöffnete Tür gerichtet.
    »Jess?«
    Jess hörte, wie drinnen jemand aufstand, nahm die Präsenz Stephanie Banacks wahr, noch ehe diese sich an der Tür zeigte.
    »Jess?« fragte Stephanie Banack und zwang Jess, sie anzusehen.
    »Mensch, du bist ja eine Schönheit«, rief Jess, ohne zu überlegen.
    Stephanie Banack lachte, ein volles, sattes Lachen, das von seelischer
Gesundheit strotzte, dachte Jess und gab Stephanie Banack die Hand.
    »Du hast mich wohl nach meiner Nasenoperation nicht mehr gesehen.«
    »Du hast dir die Nase operieren lassen?« fragte Jess scheinheilig.
    »Ja, und ich hab mir das Haar heller färben lassen. Komm, gib mir deinen Mantel.«
    Jess ließ sich von Stephanie Banack aus dem Mantel helfen und wartete, bis sie ihn im Schrank aufgehängt hatte. Sie fühlte sich plötzlich nackt trotz ihres Pullovers und des schweren Wollstoffs ihres Rockes.
    Stephanie Banack wies mit einer lockeren Handbewegung auf ihr Zimmer. »Gehen wir hinein.«
    Die weichen Grau- und Grüntöne des Vorzimmers wiederholten sich in dem großen, hellen Raum. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch mit vielen gerahmten Fotografien dreier lachender Jungen. Davor stand ein Drehsessel. Das beherrschende Möbelstück im Zimmer jedoch war der große, mit grauem Leder bezogene Ruhesessel, der in der Mitte stand.
    »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, sagte Stephanie Banack. »Wie geht es dir?«
    »Gut.«
    »Bist du noch bei der Staatsanwaltschaft?«
    »Ja.«
    »Und du fühlst dich dort wohl?«
    »Sehr.«
    »Du bist hier nicht im Zeugenstand, Jess. Du brauchst deine Antworten nicht auf ein Wort zu beschränken.« Stephanie Banack klopfte auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch leicht auf die hohe Rükkenlehne des grauen Ledersessels. Sie setzte sich und drehte ihren Sessel in Jess’ Richtung. »Setz dich doch.«
    Aber Jess blieb stur stehen. Sie sah die stolze Kopfhaltung Stephanie
Banacks, die ruhige Gelassenheit ihrer Bewegungen, die Wärme und die Offenheit ihres Lächelns. Sie konnte nur in die falsche Praxis geraten sein. Oder vielleicht war sie in der richtigen Praxis, aber bei der falschen Therapeutin. Die Stephanie Banack, die Jess zu sehen erwartet hatte, zeichnete sich durch eine schlechte Haltung und muffige Verschlossenheit aus. Sie trug schlecht sitzende geerbte Kleider, keine eleganten Hosenanzüge von Armani. Diese Frau hier mußte eine andere Stephanie Banack sein. Es war nicht völlig ausgeschlossen, daß es im Zentrum von Chicago zwei Psychotherapeutinnen namens Stephanie Banack gab. Vielleicht waren sie beide gute Freundinnen ihrer Schwester. Oder vielleicht war diese Frau hier eine Betrügerin, eine Patientin, die die wahre Stephanie Banack ermordet hatte und in ihre Rolle geschlüpft war. Vielleicht war es das klügste, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
    Oder vielleicht sollte sie sich in die nächste Nervenklinik einweisen lassen.

Weitere Kostenlose Bücher