Schau Dich Nicht Um
Bristol kreuzte mit langen Schritten den Saal und trat an den Tisch der Anklage. »In einem Punkt stimmen die Verteidigung und die Anklage überein«, sagte er und sah Jess direkt an. »Mein Mandant ist für den Tod seiner Frau verantwortlich.« Er machte eine Pause und kehrte mit zielbewußtem Schritt zur Geschworenenbank zurück. »Wir behaupten jedoch, daß Terry Wales nie die Absicht
hatte, seine Frau zu töten, sondern daß er ihr lediglich einen Schrekken einjagen wollte, daß er sie zur Vernunft bringen, sie veranlassen wollte, in ihr gemeinsames Haus zurückzukehren. Ganz gleich, wie fehlgeleitet, wie irrational diese Absichten waren, den Tatbestand des kaltblütigen mit Berechnung und Vorsatz verübten Mordes erfüllen sie nicht.
Ich möchte Sie auffordern, sich im Laufe dieses Verfahrens in Terry Wales’ Lage zu versetzen. Jeder von uns hat seine Grenzen, meine Damen und Herren. Terry Wales hatte die seinen erreicht.« Hal Bristol legte eine dramatische Pause ein, ehe er abschließend sagte: »Was würde es erfordern, damit Sie an die Ihren stoßen?«
Jess sah sich, wie sie hinter dem dünnen Vorhang am Fenster ihres Wohnzimmers stand und mit der Pistole in der Hand zur Straße hinunterblickte. Wäre sie in der Lage gewesen zu schießen? Wir alle haben unsere Grenzen, meine Damen und Herren, dachte sie und drehte den Kopf, um nach hinten zu blicken. Sie sah, wie Rick Ferguson ein Stäbchen Kaugummi in den Mund schob und zu kauen begann.
»Ist die Anklage bereit fortzufahren?« fragte Richter Harris.
»Die Anklage erbittet eine Pause von zehn Minuten«, sagte Jess schnell.
»Gut, wir machen zehn Minuten Pause«, stimmte Richter Harris zu.
»Was gibt’s denn, Jess?« fragte Neil Strayhorn offensichtlich überrascht.
Doch Jess war schon auf dem Weg nach hinten. Wenn sie erwartet hatte, daß Rick Ferguson aufspringen würde, so hatte sie sich getäuscht. Im Gegenteil, er sah nicht einmal zu ihr herüber, so daß sie gezwungen war, über die Köpfe der beiden Personen hinweg zu sprechen, die neben ihm saßen.
»Wir können das auf angenehme Weise regeln«, begann sie, »oder auf unangenehme.«
Noch immer sah er sie nicht an.
»Die angenehme Weise ist, daß Sie jetzt aufstehen und freiwillig den Saal verlassen«, fuhr sie fort.
»Und die unangenehme?« fragte er, den Blick auf den leeren Sessel des Richters gerichtet.
»Dann rufe ich den Gerichtsdiener und lasse Sie rauswerfen.«
Rick Ferguson stand auf, drängte sich an den zwei Männern vorbei zu Jess durch. »Ich wollte nur mal sehen, was mir geblüht hätte, wenn die Alte nicht verschwunden wäre«, sagte er und senkte den Blick, um ihr direkt in die Augen zu sehen. »Sagen Sie mal, Frau Anwältin, sind Sie im Bett so gut wie im Gerichtssaal?«
»Gerichtsdiener!« rief Jess laut.
»He, die angenehme Weise, wissen Sie noch?« Rick Ferguson drehte sich um und ging aus dem Saal.
Jess zitterte immer noch, als der Richter zehn Minuten später die Sitzung wieder eröffnete.
Es war fast sieben Uhr, als ein bewaffneter Hilfssheriff Jess an diesem Abend zur Parkgarage dem Administration Building gegenüber begleitete. Nachdem die Verhandlung geschlossen worden war, hatte sie noch beinahe zwei Stunden mit Neil und Barbara zusammengesessen, um die Ereignisse des Tages zu besprechen und die Strategie für den zweiten Verhandlungstag zu planen. Sie hatte versucht, ihren geschiedenen Mann anzurufen, aber in seiner Kanzlei hatte man ihr gesagt, er sei nicht in seinem Büro und man wisse nicht, um welche Zeit er zurückkehren würde. (»Jess, sind Sie das«, hatte seine Sekretärin höflich gefragt, als sie gerade auflegen wollte. »Wir haben ja lange nichts von Ihnen gehört. Versuchen Sie es doch später bei ihm zu Hause. Haben Sie die Nummer noch?«)
»Ich bin auf Parkdeck drei«, sagte Jess zu dem Mann, der sie begleitete. Alle Staatsanwälte wurden nach Einbruch der Dunkelheit von bewaffneten Beamten des Sheriffs zu ihren Autos begleitet.
»Sie sind sicher froh, daß Sie Ihren Wagen endlich wiederhaben«, sagte der junge Mann mit der dunkelblauen Schirmmütze auf dem blonden Haar. Er hatte die Hand am Holster, als er Jess über den Parkplatz im Freien zum Parkhaus führte. Jess erzählte ihm von ihrem Ärger mit der Autowerkstatt, während sie auf den Aufzug warteten.
»Aber wenigstens haben sie den Wagen gewaschen«, sagte sie, als sich die Aufzugtür öffnete und sie eintraten.
»Man muß versuchen, immer das Positive zu sehen«, meinte der
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