Schau Dich Nicht Um
zu lassen.«
»Sieh zu, daß er meinem Gerichtssaal fernbleibt.«
»Da wirst du ihn bestimmt nicht wiedersehen.«
Trotz des ruhigen Tons, in dem Don sprach, hörte Jess aus seiner Stimme deutlich seine Verwirrung heraus. Sie wußte, daß er sich die
größte Mühe gab, Beruf und Privatleben voneinander zu trennen, und daß sie ihm das beinahe unmöglich machte.
»Es ist fast neun«, sagte er nach einer längeren Pause. »So wie ich dich kenne, hast du noch nicht gegessen.«
»Ich bin nicht gerade hungrig.«
»Aber du mußt essen. Ich kann in zwanzig Minuten bei dir sein. Wir gehen irgendwohin und essen ein Steak...«
»Don, kannst du dir vorstellen, daß es mir nach so viel Scheiße den Appetit verschlagen hat.« Sie spürte, daß er lächelte. »Tut mir wirklich leid. Ein andermal vielleicht?«
»Natürlich, jederzeit. Schlaf dich aus.«
»Danke.«
»Und, Jess...«
»Ja?«
»Der Staat Illinois tötet Verbrecher nicht mehr auf dem elektrischen Stuhl. Ich glaube, man arbeitet jetzt mit Injektionen.«
Sie lachte. »Vielen Dank für die Information.«
Sie legten auf, ohne Aufwiedersehen zu sagen.
Und prompt begann Jess’ Magen zu knurren. »Na wunderbar. Perfektes Timing.« Jess sah zum Telefon, entschied sich aber dann, Don nicht zurückzurufen. Sie war zu müde, zu gereizt, zu verärgert, um auszugehen. Sie würde Don nur den Abend verderben. Und warum sollte sie Steak essen, wenn sie einen ganzen Stapel gefrorener Pizza in ihrem Tiefkühlschrank hatte?
Sie nahm zwei Pizzas aus der Zellophanverpackung und schob sie in den Mikrowellenherd. Dann holte sie sich eine Dose Cola aus dem Kühlschrank, öffnete sie und nahm einen langen Schluck direkt aus der Dose. Ihr Schwager fiel ihr ein, in dessen Haus Limonaden seit neuestem nicht mehr erlaubt waren. (»Ich glaube, du bist eifersüchtig«, hatte Barry gesagt. »Weil deine Schwester einen Mann und eine Familie hat und glücklich ist. Und was hast du? Einen Tiefkühlschrank voll Gefrierpizza und einen verdammten Kanarienvogel!«)
Hatte er recht? War sie wirklich eifersüchtig auf das Glück ihrer Schwester? Konnte sie so kleinlich sein?
Zum ersten Mal seit langem hatte Maureen sie nicht zum Thanksgiving-Essen eingeladen. Sie hatte etwas davon gesagt, daß sie zur Abwechslung einmal bei Barrys Eltern essen würden, aber wahrscheinlich war sie einfach verärgert. Sie waren alle verärgert. Sogar ihr Vater hatte alle Versuche aufgegeben, sie mit der neuen Frau in seinem Leben bekannt zu machen. Er habe den Pressewirbel um ihren gegenwärtigen Prozeß verfolgt und könnte verstehen, daß sie viel zu tun habe, hatte er gesagt. Er werde warten, bis der Prozeß vorbei sei.
Was tat sie ihrem Vater nur an? War sie auch auf sein Glück eifersüchtig? Verlangte sie von den Menschen, die sie liebten, daß sie das gleiche ungesellige, einsame Leben führten, in dem sie selbst sich eingerichtet hatte? Sah sie allen Ernstes im Interesse ihres Vaters an einer anderen Frau einen Verrat an ihrer Mutter? Selbst jetzt noch, nach all diesen Jahren?
Jess stützte ihren Kopf in die Hände. Allmählich wurde ihr klar, daß das nicht der Grund war. Indem ihr Vater sich einer anderen Frau zuwandte, unterzeichnete er in symbolischer, aber dennoch sehr realer Weise den Totenschein ihrer Mutter.
Jess hob ihren Kopf von ihren Händen und blickte zur Decke hinauf. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. War es möglich, daß sie noch immer halb erwartete, ihre Mutter werde eines Tages plötzlich wieder in ihr Leben treten? War es das, worauf sie wartete und hoffte, wonach sie sich sehnte? Selbst jetzt noch, nach acht Jahren? Wartete sie immer noch darauf, daß ihre Mutter plötzlich auf der Schwelle stehen, ihre treue Tochter in die Arme nehmen, ihr Gesicht mit heißen Küssen bedecken und ihr sagen würde, daß sie an ihrem Verschwinden nicht schuld war, daß sie freigesprochen war?
Wartete sie noch immer auf den Moment der Absolution? Konnte sie ihr Leben ohne diese Absolution nicht weiterführen?
Der Wecker am Mikrowellenherd piepte, ihr Abendessen war fertig. Das Geräusch holte Jess in die Realität zurück. Vorsichtig hob sie die beiden dampfenden Pizzas aus dem Rohr und legte sie auf einen Teller. Sie nahm den Teller und die Dose Cola mit ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Erst jetzt wurde sie auf die Sechziger-Jahre-Musik aufmerksam, die im Radio lief. » Monday, Monday « sangen die Mamas and the Papas im schönsten Einklang, und Jess zuckte die Achseln. Wie
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