Schau Dich Nicht Um
haben, der sie getötet hat.
Man wird Ihnen erzählen, Nina Wales habe ihren Mann wegen seiner Mängel als Liebhaber verhöhnt, sie habe sich über ihn lustig gemacht, ihn wegen seiner Unfähigkeit, ihre unstillbaren Gelüste zu befriedigen, erbarmungslos verspottet.
Schließlich wird die Verteidigung Ihnen berichten, Nina Wales
habe ihrem Mann nicht nur gedroht, ihn zu verlassen, vielmehr habe sie ihm außerdem gedroht, ihn um sein ganzes Vermögen zu bringen, ihm seine Kinder zu nehmen, ihm die Kinder abspenstig zu machen. Kurz, sie habe ihm gedroht, ihm nichts zu lassen, nicht einmal seine Selbstachtung.
Und dennoch, wird man behaupten, habe er sie geliebt. Dennoch habe er sie angefleht zu bleiben. Und dennoch habe sie abgelehnt.
Ich frage Sie«, sagte Jess, den Blick auf die Geschworenen gerichtet, »was kann ein Mann in einer solchen Situation noch tun? Was blieb Terry Wales denn anderes übrig, als seine Frau zu töten?«
Jess machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. Sie drehte langsam den Kopf und nahm den Saal mit einem Blick in sich auf. Sie sah Richter Harris, dessen Gesicht den interessierten und dennoch neutralen Ausdruck zeigte wie bei jedem Prozeß, bei dem er den Vorsitz führte; sie sah Neil Strayhorn leicht vorgebeugt am Tisch der Staatsanwaltschaft sitzen und ihr aufmunternd zunicken; sie sah die Reihen dichtgedrängt sitzender Zuschauer, die Reporter, die eifrig schrieben, die Zeichner vom Fernsehen, die schnelle Porträts des Angeklagten zu Papier brachten.
Sie sah Rick Ferguson.
Er saß in der zweiten Reihe von hinten, drei Plätze vom Mittelgang entfernt. Das schmutzig blonde Haar hing strähnig hinter seinen Ohren herab, sein Blick war starr geradeaus gerichtet, sein verhaßtes Grinsen war ungetrübt. Mit hämmerndem Herzen wandte Jess sich ab.
Was tat er hier? Was wollte er beweisen? Daß er sie einschüchtern konnte? Daß er sie nach Belieben belästigen und quälen konnte? Daß er sich von ihr nicht unter Kontrolle halten ließ? Daß man ihn nicht stoppen konnte?
Laß dich jetzt nicht durcheinanderbringen, sagte Jess sich. Konzentrier dich. Konzentrier dich auf deinen Vortrag für die Geschworenen. Laß dich nicht von dem einen Killer daran hindern,
den anderen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Kümmere dich jetzt um Terry Wales und später um Rick Ferguson.
Jess wandte sich wieder den Geschworenen zu. Sie sah, daß sie begierig darauf warteten, daß sie fortfuhr.
»Sehen Sie sich den Angeklagten genau an, meine Damen und Herren«, forderte Jess die Geschworenen auf. Wieder wich sie von ihrem vorbereiteten Text ab. »Er sieht nicht aus wie ein kaltblütiger Mörder, nicht wahr? Im Gegenteil, er sieht eigentlich ziemlich harmlos aus. Sanftmütig, demütig fast. Ziemlich schmächtig für einen Mann, der regelmäßig seine Frau geschlagen hat, denken Sie sich wahrscheinlich. Aber noch einmal, meine Damen und Herren, lassen Sie sich vom äußeren Schein nicht täuschen.
Tatsache ist, und die Anklage wird Sie stets von neuem zu den Tatsachen dieses Falls zurückführen, Tatsache ist, daß Terry Wales einen schwarzen Gürtel in Karate hat; Tatsache ist, daß wir Krankenhausunterlagen haben, aus denen hervorgeht, daß Nina Wales im Laufe der Jahre von ihrem Mann immer wieder körperliche Verletzungen beigebracht wurden. Tatsache ist, daß Terry Wales seine Frau geprügelt hat.
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, meine Damen und Herren Geschworenen«, fuhr Jess fort und hielt den Blick eisern auf die Geschworenenbank gerichtet. »Kann man uns ernsthaft glauben machen, daß Terry Wales seine Frau in einem Anfall plötzlich aufflammender Leidenschaft getötet hat, obwohl die beiden einander seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen hatten? Kann man uns ernsthaft glauben machen, daß kein Vorsatz vorhanden war, obwohl Terry Wales die Mordwaffe am Tag vor dem Angriff auf seine Frau kaufte? Kann man uns ernsthaft glauben machen, daß er keinen vorgefaßten Plan hatte? Daß er nicht erwartete, daß seine Frau ums Leben kommen könnte, wenn der Pfeil mit der Stahlspitze in ihre Brust eindrang?
So nämlich definiert das Gesetz vorsätzlichen Mord«, erklärte
Jess. Sie fühlte Rick Fergusons durchbohrenden Blick in ihrem Nacken. Sie sprach bewußt langsam, damit die Geschworenen jedes einzelne Wort hören und würdigen konnten, während sie das Gesetz aus dem Gedächtnis zitierte. »›Wenn der Mord kaltblütig, mit Berechnung und vorsätzlich nach einem vorgefaßten Plan oder mit
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