Schau Dich Nicht Um
das lange rosa-weiße Batistnachthemd an und legte dann ihre Sachen für den nächsten Tag zurecht: Blue Jeans, ein roter Rolli, dicke rote Socken, frische Unterwäsche. Dann brauchte sie morgen nur noch hineinzusteigen. Ihre Tennisschuhe standen auf dem Boden neben dem Stuhl bereit. Die Welt war in Ordnung, dachte sie, auf dem Weg ins Bad, um sich für die Nacht fertigzumachen. Sie konnte es kaum erwarten, ins Bett zu kommen.
Es war erst neun Uhr, stellte sie mit einiger Überraschung fest, als sie die Schlafzimmerlampe anknipste und unter die Decke kroch. Sie hätte wahrscheinlich noch etwas tun sollen, um sich auf die Wiederaufnahme des Wales-Prozesses am Montag vorzubereiten, aber ihr fielen schon die Augen zu. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen. Sie war an einem einzigen Nachmittag von zwei Männern enttäuscht worden. Sie hatte Stärke gefunden und gleich wieder verloren. Das war weiß Gott genug für einen Tag.
Sie streckte sich aus und lauschte den gedämpften Geräuschen, die aus der Wohnung unter ihr heraufdrangen. Walter gibt anscheinend wieder mal eine Party, dachte sie noch, ehe sie einschlief.
In ihrem Traum stand sie in ihrem rosa-weißen Batistnachthemd und ihren abgetragenen rosafarbenen Hausschuhen vor der Geschworenenbank.
»Wir sind ganz hingerissen von Ihrem Pyjama«, sagte eine der Geschworenen und griff über die Balustrade, um den weichen Ärmel von Jess’ Nachthemd zu streicheln. Aber ihre Hand war eine Adlerklaue, und die Krallen zerfetzten den Stoff und rissen ihre Haut blutig.
»Warte, ich verbinde es dir«, rief Don und setzte mit einem Sprung über den Tisch der Verteidigung.
Jess erlaubte ihm, sie an sich zu ziehen, spürte, wie ihre Körper einander berührten, und schleuderte sich genau in diesem Augenblick mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn, so daß er das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging.
Richter Harris klopfte ungehalten mit seinem Hammer auf den Tisch. »Ich rufe Sie zur Ordnung«, forderte er mit Adam Stohns Stimme. »Ich rufe Sie zur Ordnung.« Dann: »Jess, sind Sie da? Jess? Jess?«
Noch nicht ganz wach, setzte sie sich im Bett auf, erleichtert wie ein Kind, sich in ihrem Schlafzimmer zu sehen und nicht im Gerichtssaal. Typisch für mich, dachte sie, während sie nach den Fetzen ihres Traums haschte, die sich rasch aufzulösen drohten, den einen Menschen zurückzustoßen, der mir helfen möchte.
»Jess!« hörte sie wieder die Stimme aus ihrem Traum. »Jess, sind Sie da?«
Das Klopfen des Hammers ging weiter. Aber es war kein Hammer, wie Jess jetzt erkannte, als sie ganz wach wurde, es war eine Hand, die an ihre Tür klopfte. Sie griff über ihr Bett zum Nachttisch.
Sie zog die Schublade auf und tastete nach ihrer Waffe, selbst erschrocken, als sie sie herausnahm, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das tat.
»Wer ist da?« rief sie laut, schob die Füße in ihre Hausschuhe und faßte den Revolver fester, als sie zur Tür ging. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte von der lauten Musik in der unteren Wohnung.
»Ich bin’s, Adam«, rief es von der anderen Seite.
»Was tun Sie hier?« fragte Jess, ohne die Tür zu öffnen.
»Ich wollte Sie sehen.«
»Haben Sie noch nie was vom Telefon gehört?«
»Ich habe genug Telefone gesehen«, rief er lachend zurück. »Ich wollte Sie sehen. Es war ein spontaner Entschluß.«
»Wie sind Sie ins Haus gekommen?«
»Die Haustür war offen. Unten ist anscheinend ein Riesenfest im Gange. Jess, müssen wir uns durch die Tür anbrüllen? Wollen Sie mich nicht hineinlassen?«
»Es ist spät.«
»Jess, wenn Sie Besuch haben...«
Sie öffnete die Tür. »Es ist niemand hier.« Mit dem Revolver winkte sie ihn herein.
»Um Gottes willen, ist das Ding echt?«
Jess nickte. Wunderbar sah er aus, dachte sie und könnte nur hoffen, daß sie nicht so albern aussah, wie sie sich fühlte mit ihrem rosaroten Batistnachthemd, den rosaroten Hausschuhen und dem Smith & Wesson.
»Ich traue Leuten nicht, die mich mitten in der Nacht besuchen«, erklärte sie ihm.
»Mitten in der Nacht? Jess, es ist halb elf.«
»Halb elf?«
»Sie könnten sich ein Guckloch in die Tür machen lassen. Oder eine Sicherheitskette besorgen.« Er blickte nervös auf die Waffe.
»Könnten Sie das Ding jetzt vielleicht wegstecken?« Er zog seine Jacke aus, warf sie über die Armlehne des Sofas, als hätte er jetzt, da er einmal hier war, die Absicht zu bleiben. Im weißen Pullover und Blue Jeans stand er vor ihr. Erst da bemerkte sie
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