Schau Dich Nicht Um
Nachmittag in dem Schuhgeschäft beobachtet hatte, schmerzte immer noch. Sie schämte sich. Hatte der andere Verkäufer Adam von ihrem Besuch erzählt? »Was wollen Sie hier?«
»Glauben Sie etwa, ich möchte Ihnen noch ein Paar Stiefel verkaufen?«
»Ich bin mir nicht sicher, was Sie mir verkaufen wollen.«
Wieder schenkte er sich Wein ein, spülte ihn mit zwei Schlucken hinunter, goß dann den Rest aus der Flasche in sein Glas. »Ich bin nicht verheiratet, Jess. Ehrlich nicht.«
Jess sagte nichts. Ihr Zorn war verflogen. Tiefer erleichtert, als sie sich selbst gern eingestand, starrte sie in ihren Schoß.
»Hatten wir gerade unseren ersten Streit?« fragte er.
»Ich kenne Sie nicht gut genug, um mich mit Ihnen zu streiten«, antwortete Jess.
»Sie kennen mich so gut wie nötig.« Er trank seinen Wein aus und starrte ungläubig in sein leeres Glas, als sei ihm erst in diesem Moment bewußt geworden, daß er in weniger als zehn Minuten beinahe eine ganze Flasche Wein ausgetrunken hatte.
»Nötig für mich oder für Sie?«
»Ich plane eben nicht gern im voraus.«
Jess lachte.
»Was ist daran komisch?« fragte er.
»Ich plane alles.«
»Und was erreicht man damit, daß man alles plant?« Er lehnte sich im Sofa zurück, zog seine Schuhe aus, hob die Beine hoch und streckte sie ganz lässig über Jess’ Schoß aus.
»Wahrscheinlich gibt mir das die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben«, antwortete Jess. Sie fühlte sein Gewicht auf ihren Oberschenkeln. Im ersten Moment machte sie sich steif, dann entspannte sie sich, erlaubte sich, den Kontakt zu genießen. Es war so lange her, seit sie das letzte Mal mit einem Mann zusammengewesen war; so lange, seit sie sich den Genuß der Liebkosung eines Mannes gegönnt hatte. Hatte er mit seinen unverschämten Vermutungen doch recht gehabt? Würde sie ihn jetzt, nachdem sie ihn hereingelassen und seinen Wein getrunken hatte, dankbar mit in ihr Bett nehmen?
»Und diese Illusion, alles unter Kontrolle zu haben, ist Ihnen wichtig?« fragte er.
»Sie ist das einzige, was ich habe.«
Adam lehnte seinen Kopf an das Polster und rutschte ein wenig abwärts, so daß er beinahe lag. »Ich glaube, ich habe zuviel getrunken.«
»Ich glaube, da haben Sie recht.« Es folgte eine lange Pause. »Warum sind Sie hierhergekommen, Adam?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er. Seine Augen schlossen sich schon, das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich hätte es wahrscheinlich nicht tun sollen.«
Sag das nicht, entgegnete Jess ihm im stillen. »Vielleicht ist es besser, wenn Sie gehen«, sagte sie laut und kämpfte gegen das Verlangen, ihn in ihre Arme zu nehmen. »Ich rufe Ihnen ein Taxi. Fahren können Sie auf keinen Fall.«
»Ich brauche nur ein kleines Schläfchen, zehn Minuten.«
»Adam, ich rufe ein Taxi an.« Jess versuchte seine Beine hochzuheben, aber sie waren zu schwer. »Wenn Sie nur Ihre Füße ein bißchen wegtun...«
Er tat es. Er zog die Knie an und drehte sich ganz auf die Seite. Und fühlte sich noch schwerer an als vorher.
»Na prächtig«, sagte Jess. Sie kitzelte ihn an den Fußsohlen, weil sie hoffte, er würde dann seine Beine wegziehen. Aber er reagierte überhaupt nicht.
»Adam, ich kann nicht die ganze Nacht so hier sitzen«, sagte sie, den Tränen nahe. »Herrgott noch mal, das ist doch blöd!« rief sie zornig. »Ich laß mich doch nicht in meiner eigenen Wohnung zur Gefangenen machen. Ich werde doch nicht die ganze Nacht auf meinem Sofa sitzen und stillhalten, weil es sich ein besoffener Idiot auf meinem Schoß bequem gemacht hat. Ich brauche meinen Schlaf. Ich muß ins Bett. Hohh! « schrie sie, aber Adam rührte sich nicht.
Mit neuer Entschlossenheit riß Jess an Adams Füßen, und nach ein paar Minuten gelang es ihr, sie so hoch zu heben, daß sie aufstehen konnte. Adams Füße fielen mit einem sachten Aufprall wieder auf das Sofa.
Ein paar Minuten lang blieb Jess vor ihm stehen und betrachtete ihn im Schlaf. »Adam, Sie können nicht hier bleiben«, flüsterte sie. Dann lauter: »Adam, ich rufe jetzt ein Taxi für Sie.«
Und was willst du sagen? Daß du hier einen Mann hast, der sinnlos betrunken auf deinem Sofa liegt, und jemanden brauchst, der ihn drei Treppen hinunterschleppt und ihn dann nach Hause bringt, nur leider hast du keine Ahnung, wo er wohnt? Ja, klar, um so einen Fahrgast werden die sich reißen.
Mach dir keine Illusionen, Jess, sagte sie sich, während sie ihn mit seiner Jacke zudeckte. Adam Stohn geht heute nirgends mehr hin.
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