Schau mir ins Herz
Set herrschte zu viel Rummel für eine Erklärung.“
Erklärung? Hatte er tatsächlich „Erklärung“ gesagt?
Also trafen ihre schlimmsten Befürchtungen zu. Die Trauung war echt, und es war Nicolas, der sie arrangiert hatte. Carol sah ihn an und fragte sich benommen, wie er glaubte, sein empörendes Tun beschönigen zu können. Wie wollte er ihr diese Zwangsheirat erklären? Eine Heirat, die durch einen miesen Trick zustande gekommen war und sie an ihn kettete – an einen Menschen, der vor wenigen Tagen noch ein vollkommen Fremder für sie gewesen war.
Ich sollte ihn hassen, dachte sie. Dafür, wie er mir mein Leben aus der Hand gerissen hat. Als wäre sie ein Gegenstand, den man nicht nach seiner Zustimmung zu fragen brauchte, wenn man ihn in seinen Besitz bringen wollte.
Doch selbst jetzt, da sie wusste, wie skrupellos er war, fand sie es schwer, Abscheu gegen ihn zu empfinden. Es schien keine Rolle zu spielen, was er getan hatte oder aus welchem Grund – oder wie es nun weitergehen sollte. Sie verspürte weder Zorn noch Verachtung, lediglich eine große Müdigkeit. Sie war außerstande, weiter nachzudenken, zu grübeln, Mutmaßungen anzustellen. Sie würde sich anhören, was er zu sagen hatte, und ihren erschöpften Verstand so gut es ging dazu bringen, seine Ausführungen zu begreifen …
„Nun?“
Sie konnte sich nicht erklären, weshalb er ihr diese Frage stellte und warum seine Stimme so hart und ungeduldig klang.
„Ich warte.“
„ Du wartest?“ Wut schoss in ihr hoch und ließ sie ihre Mattigkeit vergessen. „Worauf?“
„Hör auf, Spielchen mit mir zu spielen.“ Nicolas’ Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Seine Augen blickten feindselig. „Ich habe keine Lust auf weitere Wortgefechte, meine geliebte Braut. Ich warte also auf deine Erklärung.“ Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht.
„Meine?“, fragte Carol ungläubig.
„Hierfür.“ Nicolas hielt ihr seine geöffnete Handfläche hin. Ein zerknülltes Stück Papier lag darauf. Er glättete es und las ihr vor: „‚Der Priester ist echt. Die Heirat ist gültig.“ Er sah sie an. „Ich habe keine Ahnung, wie oder warum du das getan hast, welcher Teufel dich geritten hat, dass du dir so etwas ausdenkst. Wolltest du dich rächen, weil ich dich bei unserer ersten Begegnung …“ Er verstummte und ballte eine Hand zur Faust. „Nein. Das kann ich nicht glauben. Aber warum dann?“
Carol schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, in einen Albtraum geraten zu sein. Sie versuchte, Worte zu finden, und merkte, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte.
Nicolas ragte über ihr, vollkommen unbeweglich.
„Es muss dir doch klar gewesen sein, dass du mir irgendwann gegenüberstehen würdest und einer Erklärung nicht mehr ausweichen kannst. Das ist jetzt der Fall. Ich warte …“
Carol bewegte die Lippen, doch sie schien keine Worte formen zu können. Sie strengte sich an und versuchte, langsam zu sprechen und die Dinge in die Reihenfolge zu bringen, in der sie passiert waren.
„Die Notiz“, sagte sie vorsichtig. „Ich hatte angenommen, es sei eine Warnung. Ich dachte, dass du … ich glaubte, du wolltest mir erklären, warum du das getan hast.“
„Ich!“ Das Wort explodierte förmlich in die Stille hinein. Carol hörte die ungläubige Verachtung, mit der Nicolas es aussprach.
„Ich fand den Zettel in meinem Handschuh“, fuhr sie fort. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er kam mir vor wie ein echter Priester, auch weil er Latein sprach. Ich wollte die Sache irgendwie unterbrechen, aber alle dachten, dass ich schauspielere. Und du – du hast mich nicht losgelassen. Ich habe versucht, dir meine Hand zu entreißen, doch der Ring …“
Sie sah auf ihre Hand. Der Goldreif schimmerte rötlich im dämmrigen Licht. „Und dann … war es zu spät.“
Plötzlich wurde ihr alles zu viel. Sie begann zu weinen, leise, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Sie war zu schwach, um sich zusammenzureißen.
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, durch den Schleier von Tränen zu erkennen, dass Nicolas eine Bewegung auf sie zu machte, glaubte einen Ausruf der Sorge zu hören, doch dann erstarrte er. Als er sprach, war seine Stimme eisig.
„Und was hat dir Anlass gegeben zu glauben, dass ich dich heiraten will?“
Carol wandte den Blick ab. Sie konnte es nicht ertragen, die Verachtung in seinen Augen zu sehen.
„Deiner Meinung nach habe ich anscheinend nicht nur geplant, dich zu
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