Schau mir ins Herz
Nicolas beibringen sollte, dass sie schwanger war. Früher oder später würde sie es ihm sagen müssen, aber der Gedanke, dass diese Mitteilung Gegenstand einer ihrer distanzierten Dialoge sein sollte, erschien ihr unerträglich. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er seine Augenbrauen hochziehen und sagen würde: „Ach, tatsächlich?“
Nicolas war ihr Zustand nicht aufgefallen, aber bisher sah man ihr auch nicht an, dass sie ein Kind erwartete. Er bekam nicht mit, dass sie ihr Frühstück kaum anrührte, weil er um diese Zeit schon in seinem Arbeitszimmer saß und sich mit seinen Geschäftsangelegenheiten befasste oder längst unterwegs war, um die Installation irgendwelcher Teile in der neuen Entsalzungsanlage zu überwachen. Und am Abend, wenn sie sich in der Regel genauso schlecht fühlte wie morgens, kam er gar nicht oder wenn, dann so spät, dass das Dinner, das Anna so sorgfältig zubereitet hatte, völlig verkocht war.
„Was ist mit dem barone los?“, fragte sie Carol vorwurfsvoll. „Gestern habe ich ihm seine Leibspeise gemacht – frittierte Kürbisblüten –, und er isst sie so begeistert, als wären es Papierschnipsel. Ich koche ihm Rinderlende mit Rotweinsauce, und er pickt darin herum wie ein Spatz.“
„Ich weiß es nicht, Anna“, antwortete Carol. „Vielleicht setzt ihm die Hitze zu. Ehrlich gesagt, habe ich zurzeit auch wenig Appetit.“
„Das ist ja wohl etwas ganz anderes“, schnaubte die Köchin und marschierte entschlossenen Schrittes zurück in ihre Küche.
Carol sah ihr nach und fragte sich, ob jedermann außer Nicolas klar war, dass sie ein Kind erwartete und ob er, der als Erster hätte Bescheid wissen sollen, der Letzte sein würde, der es erfuhr.
Aber selbst danach brachte sie es nicht über sich, mit ihm zu reden. Stattdessen erklärte er ihr, dass er wieder fortmüsse. „Eine Tagung in Rom“, informierte er sie, „und ich werde wahrscheinlich drei Wochen bleiben. Wirst du mich vermissen?“, setzte er übergangslos hinzu, während sein Blick gelassen auf ihr ruhte.
Carol hätte gern gewusst, ob er sich mit einer Frau traf, doch sie verkniff es sich, ihn zu fragen, und setzte ein verbindliches Lächeln auf. „Ich werde es überleben“, sagte sie leichthin und atmete innerlich auf, als ihr klar wurde, dass sie ihm erst von ihrer Schwangerschaft erzählen musste, wenn er wieder zurück war.
„Dessen bin ich sicher“, antwortete er. „Und Tante Lucia wird ohnehin dafür sorgen, dass du dich nicht langweilst.“
Aber Tante Lucia würde auch nicht da sein. Sie plante, Freunde in Frankreich zu besuchen.
Nicolas reiste ab, und kurz darauf Tante Lucia, und plötzlich hatte Carol mehr Zeit, als ihr lieb war. Sie hielt sich beschäftigt, so gut sie konnte, besuchte die Kunsthandwerksbetriebe und pflegte Kontakte, entwarf die nächste Musterkollektion für Célie et Cie und experimentierte mit ausgefallenen Webarten, die sie erst auf Papier skizzierte und dann auf einem kleinen Handwebstuhl ausprobierte. Irgendwann hörte sie auf, die Tage zu zählen.
Aber selbst jetzt blieben die einsamen Abendstunden, und mithilfe eines Sprachbuchs fing Carol an, sich Maltesisch beizubringen. Sie probierte ihre neu gewonnenen Kenntnisse auf den Teepartys aus und erntete viel Gelächter und gutmütige Neckereien. Inzwischen hatten die Gäste ihre anfängliche Scheu überwunden, und jedermann war angetan von der jungen baronessa, der es nicht das Geringste auszumachen schien, wenn sie die Sprache nicht fehlerfrei beherrschte.
Eines Donnerstags brachte eine der Frauen Carol eine Schulgrammatik mit, und Rosaria ein altes Übungsheft.
„Ich weiß, dass Sie unsere einheimischen Sprichwörter mögen“, sagte sie, „darum habe ich das Heft für Sie herausgesucht. Unser Lehrer ließ uns damals die maltesischen Redensarten sammeln und aufschreiben.“
„Es ist wunderschön“, antwortete Carol gerührt und blätterte die ersten Seiten um. „Und sogar zweisprachig!“
„Sie können sie auswendig lernen, als Hausaufgabe sozusagen.“ Die Schneiderin zwinkerte ihr fröhlich zu, und unwillkürlich erschien das Bild der niedergeschlagenen jungen Frau, der sie auf den Klippen von Ta Cenc begegnet war, vor Carols innerem Auge. Welch eine Veränderung mit Rosaria vorgegangen war, seitdem sie und ihr Mann sich vor Kurzem ausgesprochen und versöhnt hatten!
Es muss Schicksal sein, dass es in all diesen Redensarten um Liebe und Ehe geht, dachte Carol, als sie am Abend in dem Heft
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