Schau mir ins Herz
brauchte keine Worte, um ihr klarzumachen, was er von der Frau hielt, die er geheiratet hatte. Carol wusste, wie sehr er sie verachtete, wenn er den Kopf abwandte; seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber zeigte sich unmissverständlich in dem Schweigen, das zwischen ihnen herrschte.
Sie empfand keine Genugtuung darüber, dass Nicolas sie für gefühllos hielt. Im Gegenteil, es machte ihr Angst, sich vorzustellen, dass sie am Ende ebenso gleichgültig werden könnte wie er; dass aus dem vorgespielten ein echtes Desinteresse würde. Aber war das nicht genau das, was du wolltest?, fragte sie sich. Und ist es nicht allemal besser, nichts zu empfinden, als einen Mann zu lieben, der deine Liebe nicht erwidert?
Nicolas war tagsüber nur selten daheim, und manchmal kam er nicht einmal zum Schlafen nach Hause. Carol versuchte, die peinigende Erinnerung daran zu verdrängen, doch seine Bemerkung über den hungernden Ehemann, der sich in fremden Küchen verköstigt, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie sagte sich, dass es ihr nichts ausmachte und dass er, wenn es nach ihr ging, so viele Geliebte haben konnte wie Salomon Eheweiber, aber ihr Herz ließ sich nicht belügen. Es machte ihr etwas aus. Es verletzte sie.
Die Nächte waren eine Qual und die Tage bedrückend. Carol fühlte sich kraftlos und matt und litt unter ständigem Kopfschmerz. Nachdem Anna ihr eines Morgens vorgeworfen hatte, dass sie kaum etwas aß, beschloss Carol, sich aufzuraffen und Ta Dentella einen Besuch abzustatten.
Sie nahm den Wagen und fuhr zu dem kleinen Haus auf der Klippe bei Ramla. Die alte Spitzenklöpplerin saß vor der Tür, genau wie bei ihrer ersten Begegnung. Sie begrüßte Carol warmherzig und nahm ihre Hand.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie und musterte Carol besorgt. „So elend sollte eine jung verheiratete Ehefrau eigentlich nicht aussehen.“ Sie rückte den Stuhl neben ihren Schemel. „Hier, setzen Sie sich einen Moment.“
Carol tat, wie ihr geheißen. „Oh, ich bin gesund und munter“, antwortete sie, auch wenn dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie wusste seit einiger Zeit, dass ihre Übelkeitsanfälle und die Müdigkeit nicht von der Hitze herrührten, doch Ta Dentella schien sofort zu erraten, wie die Dinge standen. Sie stellte ein paar forschende Fragen und tat es mit so viel liebevoller Anteilnahme, dass Carol schließlich zugab, dass sie Nicolas’ Kind erwartete.
„Der Himmel segne Sie!“ Die alte Frau strahlte sie an, und Carol versuchte, so glücklich auszusehen, wie Ta Dentella sicherlich annahm, dass sie es sein müsse.
Es misslang. Stattdessen brach sie unter der Last ihres wochenlangen Unglücks zusammen. Ihr Kopf sank gegen Ta Dentellas Schulter, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.
„Nicht doch“, sagte die alte Frau sanft. „Dies ist kein Grund, traurig zu sein.“ Sie streichelte Carol übers Haar. „Oder haben Sie Angst, dass der barone sich nicht freuen wird? Glauben Sie mir, wenn ein Mann eine Frau liebt und sie ihn, ist ein Baby das schönste Geschenk, das die beiden einander machen können.“
Carol hob ihr tränennasses Gesicht. „Aber genau das ist es ja“, flüsterte sie. „Der barone liebt mich nicht. Ich habe das Gefühl, dass er niemanden liebt.“
Ta Dentella sah sie bekümmert an. „Ich kenne ihn schon so lange, und ich weiß, dass er sehr, sehr stolz ist“, sagte sie. „Zu stolz, glaube ich, um seine Liebe zu zeigen. ‚Lass eine Frau nie wissen, dass du sie liebst‘, lautet eins unserer Sprichwörter. Eine dumme Redensart, aber stolze Männer können sehr dumm sein.“ Sie seufzte. „Sogar wenn sie so klug sind wie der Barone de Comino.“
Carol schwieg. Sie brachte es nicht übers Herz, der alten Amme zu erklären, dass sie sich in ihrem geschätzten Nicolas irrte, dass er nichts für seine Frau empfand außer kaltem, abfälligem Desinteresse.
„Und Sie?“, unterbrach Ta Dentellas Stimme ihre Gedanken. „Zeigen Sie es ihm? Zeigen Sie ihm, dass Sie ihn lieben? Haben Sie ihm gesagt, dass Sie sein Kind erwarten?“
Als sie zum palazzo zurückfuhr, gingen Carol die Worte der alten Frau nicht aus dem Sinn. Wenn es nur so leicht wäre, wie Ta Dentella dachte, hätte sie kein Problem, mit Nicolas zu reden. Aber es war so lange her, dass sie mehr als höfliche Nichtigkeiten mit ihm ausgetauscht hatte, und der Ratschlag der alten Kinderfrau erschien ihr wie ein Hohn, der den Abgrund des Schweigens zwischen ihnen nur umso mehr betonte.
Carol hatte keine Ahnung, wie sie
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