Schaut nicht weg
ehemalige Augsburger Bischof Walter Mixa, dass die zunehmende Sexualisierung des öffentlichen Lebens die »abnormen sexuellen Neigungen eher fördert als begrenzt« und die Vorkommnisse innerhalb der katholischen Kirche kaum der Rede wert seien, da sie ja in einem »verschwindend geringen« Promille-Bereich lägen. Mit dem Priester-Zölibat hätten sie nichts zu tun.
Doch mittlerweile gibt es auch innerhalb der katholischen Kirche viele Stimmen, die kritischer denken. Der katholische Theologe und Psychotherapeut Dr. Wunibald Müller etwa leitet das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach, eine psychotherapeutisch-seelsorgerische Einrichtung für Priester und Ordensleute, und hat sich aufgrund seiner Arbeit intensiv mit der Sexualität von Priestern auseinandergesetzt. Eine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch in dem Sinne, dass der Zölibat die Ursache für den sexuellen Missbrauch Minderjähriger sei, kann Müller nicht erkennen: »Wer pädophil veranlagt ist und seine Veranlagung ausleben möchte, den schützt weder der Zölibat noch die Ehe davor, das zu tun.« Und dennoch glaubt der Psychotherapeut, dass der Zölibat eine Mitschuldan den vielen sexuellen Vergehen von Priestern trägt. Denn der Zölibat könne Priester daran hindern, eine reife Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität zu führen: »Die Entscheidung, zölibatär zu leben, kann bei manchen Priestern dazu führen, dass die notwendigen psychosexuellen Reifungsprozesse nicht ernst genommen werden. Damit einhergehend unterbleibt die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität, der eigenen sexuellen Orientierung, vor allem aber auch der mühevolle Weg, der zur Intimitätsbefähigung führt.« Das »Zurückgreifen« auf Kinder und Jugendliche mancher Priester und Kaplane könne, so der Psychotherapeut, also ein Zeichen für sexuelle Unreife sein – welche durch den Zölibat noch verstärkt worden sei. Das deckt sich auch mit der These der Frankfurter Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker, leitende Psychologin der Sexualmedizinischen Ambulanz der Goethe-Universität Frankfurt, die jüngst verlauten ließ, dass 95 Prozent aller Täter »normal heterosexuell veranlagt« seien und Kinder nur deshalb präferierten, weil sie selbst entweder in einer »Krise der Männlichkeit« seien oder bestehende Machtund Abhängigkeitsverhältnisse ausnutzen wollten. Wunibald Müller ist mittlerweile nicht der einzige katholische Theologe, der laut über eine Lockerung des Zölibats nachdenkt – Rückenwind erhält Müller nun auch vom Bamberger Erzbischof Ludwig Schick. Und selbst der Papst befasse sich inzwischen mit dem Thema, so der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann. Doch mit einer Lockerung des Zölibats allein ist es sicher nicht getan. Die katholische Kirche muss in Zukunft noch achtsamer bei der Bewerberauswahl vorgehen. »Ein sorgfältiger Ausleseprozess bei den Kandidaten für das Priesteramt, der die Einbeziehung von psychologischen Fachleuten und gegebenenfalls auch Tests erfordert, ist einMuss«, glaubt Wunibald Müller. »Weiter ist es wichtig, den ganzen Bereich der Sexualität nicht zu tabuisieren, sondern bei der Ausbildung ganz selbstverständlich mit zu berücksichtigen.«
Doch nicht nur die unreife Sexualität vieler Priester und Dekane kann die Häufung sexueller Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche erklären. Auch diejenigen Strukturen der Kirche, die das Prinzip des Vertuschens erst ermöglichten, müssen reformiert werden. Denn oft genug ging es den Kirchenmännern in der Vergangenheit mehr darum, die Glaubwürdigkeit ihrer Institution zu schützen als potenzielle Opfer zu vermeiden. Geständige Täter wurden sang- und klanglos versetzt und konnten in ihrer nächsten Gemeinde erneut Kinder missbrauchen. Wie der Gelsenkirchener Pater H., der einer Recherche des SPIEGEL zufolge in den 1980er Jahren wegen Missbrauchs ins Erzbistum München-Freising versetzt wurde. Doch auch dort verging sich Pater H. wieder an Kindern, 1986 wurde er dafür verurteilt. Für die Zuständigen war allerdings auch dies noch kein Grund, den Pfarrer ein für alle Mal aus dem Verkehr zu ziehen: Bereits 1987 durfte Pater H. wieder in einer neuen Gemeinde in Garching tätig werden und mit seinen Ministranten allein auf Jugendfreizeit fahren. Der Fall des Pater H. ist keine Ausnahme, häufig ging es der katholischen Kirche mehr um Täter- als um Opferschutz. Eine
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