Schaut nicht weg
Erkenntnis, die mittlerweile aber auch bei vielen Zuständigen angekommen ist. So erklärte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch am Karfreitag diesen Jahres, dass aus »Enttäuschung über das schmerzliche Versagen der Täter und falsch verstandener Sorge um das Ansehen der Kirche« der helfende Blick für die Opfer nicht genügend gegeben gewesen sei. Nun sollen neue Leitlinien gegen sexuellen Missbrauch, eine engereZusammenarbeit mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden und bessere Modelle der Prävention neue Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche vermeiden helfen. Für dieserart Aktionen ist es höchste Zeit, schließlich hat die katholische Kirche bundesweit drastisch an Vertrauen verloren: Seit Monaten rollt eine Austrittswelle durch die 27 Bistümer, im April diesen Jahres hatte sich die Zahl der Kirchenaussteiger in einigen Kirchenbezirken sogar verdreifacht. Ihre Glaubwürdigkeit wird die katholische Kirche jedoch nur durch eine schonungslose Aufdeckung und Auseinandersetzung mit den eigenen Anteilen an den vielen Missbrauchsskandalen wiederherstellen können.
»System aus Machtmissbrauch und Abhängigkeiten«: Sexuelle Übergriffe an der Odenwaldschule
Doch der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen geschah nicht nur massenhaft in katholischen Klöstern, Internaten und Chören. Wie im Zuge der Missbrauchsskandale bekannt wurde, geschah er beispielsweise auch systematisch an der reformpädagogischen Odenwaldschule, einer Institution, die bis vor Kurzem noch als Glanzstück deutscher Pädagogik galt. Inzwischen ist bekannt, dass dort in den Jahren 1966 bis 1991 mindestens acht Lehrer mindestens 50 Schüler sexuell missbraucht haben sollen. Einer der Haupttäter war der ehemalige Schulleiter Gerald Becker, der übereinstimmenden Berichten zufolge während seiner Zeit als Lehrer und Schulleiter – von 1969 bis 1985 – regelmäßig Schüler sexuell belästigte und missbrauchte. Berichten zufolge weckte Becker etwa seine Schüler morgens mit einem Griff in den Schritt, trocknete sie nach dem Duschen ab oder drängelte sich nachts in ihr Zimmer und war dabei so aufdringlich, dass die älteren Schüler zur Abwehr des Schulleitersihre Türen abschlossen und mit so genannten Steckschlüsseln sicherten. Inzwischen hat der heute 73-Jährige die Übergriffe eingestanden. Aber auch andere Lehrer, wie der Musiklehrer Wolfgang Held, missbrauchten über Jahrzehnte hinweg ihnen anvertraute Schüler – und zwar mehrfach täglich. Held konnte sogar unbehelligt pornografische Videos und Bilder seiner Schüler produzieren, unter anderem in einer extra dafür angemieteten Wohnung in Heppenheim und in Ferienhäusern. Laut Berichten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurden gegen Held bereits 1968 die ersten Vorwürfe laut, als ein 13 Jahre alter Schüler zehn Mitschüler zusammentrommelte und gemeinsam mit ihnen dem ehemaligen Schulleiter Walter Schäfer von den sexuellen Übergriffen durch Held berichtete. »Doch nicht Held, sondern der Schüler musste die Schule verlassen«, schrieb der recherchierende Journalist Volker Zastrow am 2. Mai 2010 in der FAZ. »Nachdem der Junge vorgesprochen hatte, war er von Schäfer einem Intelligenztest unterzogen worden. Das Ergebnis des Tests wurde gefälscht. Der Mutter des Jungen hielt Schäfer anschließend vor der Schulkonferenz die Schuluntauglichkeit ihres Sohnes vor.« Der Junge wurde von der Schule verwiesen und der Kinderschänder Held konnte weitere 21 Jahre unbehelligt an der Odenwaldschule bleiben und in dieser Zeit mutmaßlich mindestens 30 Jungen missbrauchen – ohne dass jemand eingriff. Der Musiklehrer soll sogar einem befreundeten Unternehmer seine Schüler zugeführt haben.
Doch wie kommt es, dass auch an der Odenwaldschule offenbar ein System vorhanden war, das eine Aufdeckung und Aufklärung über viele Jahrzehnte immer wieder verhinderte? Konkrete Hinweise gab es über die Jahre zuhauf: Bereits 1998 werfen zwei Schüler dem ehemaligen Schulleiter Gerold Becker Missbrauch vor und erzählen die Geschichte der Frankfurter Rundschau, die die Vorwürfe am 19. November1999 unter der Überschrift »Der Lack ist ab« veröffentlicht. Doch die Staatsanwaltschaft Darmstadt stellt die Ermittlungen schnell ein – schließlich sind die Taten längst verjährt. Die Opfer werden nie angehört. Und die Schule reagiert wieder einmal nicht, außer, dass sie einen internen Ausschuss zum Schutz vor sexuellem
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