Schaut nicht weg
übergriffigen Lehrer aus der Schule«, erklärte jüngst Ursula Enders, Gründerin der renommierten Beratungsstelle Zartbitter e.V., in einem Interview im Deutschlandfunk. »Wenn ein Lehrer sexuell übergriffig ist, wird sein Verhalten an der Frage gemessen, ob die Vorwürfe für eine strafrechtliche Verurteilung reichen. Wenn dies nicht der Fall ist, wird der Lehrer oft versetzt. Da verhalten die Schulen sich wie die Kirchen.« Die Entscheidung der Bundesregierung, einen »Runden Tisch gegen sexuellen Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen inprivaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich« einzuberufen, war also ein Schritt in die richtige Richtung – denn an der flächendeckenden Umsetzung von verbindlichen Leitlinien und guten Konzepten mangelt es uns vor allem.
Ende April 2010 tagte der Runde Tisch unter Leitung gleich dreier Ministerinnen zum ersten Mal, mit dem erklärten Ziel, herauszufinden, welche Hilfen Opfer benötigen, was nach Übergriffen zu tun ist und wie sie sich vermeiden lassen. Auch die leidvolle Frage der Verjährungsfristen wollte der Runde Tisch noch einmal neu aufgerollt wissen. Zur Mitwirkung luden die Ministerinnen eine illustre Runde von Vertretern aus der Wissenschaft und vieler gesellschaftlicher Gruppen an den Runden Tisch, unter anderem der Kinder- und Opferschutzverbände, der Zusammenschlüsse von Beratungseinrichtungen, der Familienverbände, der Schul- und Internatsträger, der Freien Wohlfahrtspflege, der beiden großen christlichen Kirchen und des Rechtswesens. Kaum zu glauben: Jahrelang hatte die Bundesregierung es versäumt, dem Thema Kindesmissbrauch angemessene Priorität einzuräumen – und nun will sie angesichts des öffentlichen Drucks endlich richtig aktiv werden.
Bereits nach der ersten Sitzung Ende April verpflichteten die Ministerinnen drei Gremien, um Handlungsempfehlungen zu verschiedenen Fragestellungen zu erarbeiten. Wichtige Kernfragen sollen dabei geklärt werden: Wie sollen die verbindlichen Selbstverpflichtungserklärungen zum Umgang mit Kindesmissbrauch von Institutionen aussehen? Was sollte der Maßnahmenkatalog zur flächendeckenden Sensibilisierung von Fachkräften und Erziehungsberechtigten zum Erkennen von sexualisierter Gewalt an Kindern beinhalten? Welche rechtlichen Änderungen sind notwendig, um kindlichen und auch inzwischen längst erwachsenenOpfern die Möglichkeit zur Strafverfolgung der Täter einzuräumen?
Trotz all dieser löblichen Vorhaben gibt es aber dennoch Kritik am Runden Tisch. Denn es scheint, als ob gerade diejenigen, um die es vor allem gehen sollte, nicht genügend zu sagen haben: die Opfer. Und tatsächlich ist der Anteil der Opferverbände im Vergleich zu den vielen Juristen und Politikern, die mit am Runden Tisch sitzen, äußerst gering. Auch an »praktischem« Fachwissen scheint es zu mangeln. Denn gerade diejenigen Beratungsstellen, die wirklich an der Basis arbeiten, sind deutlich unterrepräsentiert: Die renommierte Beratungsstelle »Tauwetter« etwa, die speziell mit als Kind missbrauchten Männern arbeitet, ist überhaupt nicht vertreten. »Ich denke, dass am Runden Tisch primär hochrangige Vertreter großer Institutionen ihre Interessen vertreten«, urteilte der Psychologe Peter Mosser von der Münchner Opferberatungsstelle »kibs« nach der ersten Sitzung des Runden Tisches. »Es ist ein Manko, dass Organisationen, die mit Opfern arbeiten, völlig unterrepräsentiert sind. Ich bin etwas pessimistisch, dass die Maßnahmen wirklich den Opfern zugutekommen.« Sollte sich erweisen, dass der Runde Tisch tatsächlich mehr dem Zwecke der Lobbyarbeit als seiner eigentlichen Aufgabe, dem Opferschutz, dient, so wäre dies eine vertane Chance. Denn vor allem um die jungen Opfer müssen wir uns kümmern – auch um zu verhindern, dass aus einigen von ihnen später wieder Täter werden!
»Das Schweigen hat ein Ende«: Was sich seit den Missbrauchsskandalen verändert hat
So schlimm die Enthüllungen der letzten Monate auch waren, eigentlich können wir ihnen dankbar sein. Dankbar dafür, dass aufgrund der intensiven Medienberichterstattung und der von der Bevölkerung mitgetragenen Bereitschaft zur Aufdeckung viele Opfer nun erstmals über ihre Erlebnisse sprechen können. Plötzlich ist da Mut zu reden, angefangen bei Pater Mertes vom Canisius-Kolleg bis hin zu den vielen betroffenen Männern und Frauen, die nun ihre Erlebnisse publik machen. Denn die Opfer spüren: Sie sind nicht
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