Schaut nicht weg
Missbrauch einrichtet, der insofern von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, als dass dort Kollegen über Kollegen urteilen sollen, mit denen sie mitunter seit Jahren befreundet sind. Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE entschloss sich die Leitung der Odenwaldschule auch dieses Jahr erst zum Gang in die Öffentlichkeit, als ehemalige Schüler unverhohlen ankündigten, dass sie nun aus eigenem Antrieb die Presse kontaktieren würden. Wie an vielen katholischen Institutionen zuvor wurde also auch hier die Wahrung des Rufes der Schule für wichtiger befunden als eine restlose Aufklärung der Missbrauchsfälle.
Vermutlich ist ein Grund für die jahrzehntelange Duldung sexueller Gewalt an der Odenwaldschule in der inselgleichen Abschirmung der Institution gegenüber der Außenwelt zu finden. Denn die Tatsache, dass die Odenwaldschule im Gegensatz zu staatlichen Schulen ein mehr oder weniger in sich geschlossenes System darstellt, öffnete dem Machtmissbrauch Tür und Tor. Zumal ja selbst die Leitung der Schule über viele Jahrzehnte sexuelle Gewalt tolerierte oder – zumindest in den Jahren Gerald Beckers – sogar aktiv daran beteiligt war. Auch die liberale Ausrichtung der Schule wurde von einigen missbrauchenden Lehrkräften als Pseudorechtfertigung für sexuelle Handlungen herangezogen. »An der Odenwaldschule wurde eine libertäre Sexualmoral, die auf Emanzipation angelegt ist, für sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung benutzt«, erinnert sich Ex-Odenwaldschüler Daniel Cohn-Bendit. Dies bestätigtauch Julia von Weiler, die Geschäftsführerin von Innocence in Danger e.V. Und die Fernsehfrau Amelie Fried bekam dies als Schülerin der Odenwaldschule ebenfalls zu spüren: In einem eindrücklichen Artikel für die FAZ beschrieb Fried, wie sie als junges Mädchen gegen ihren eigentlichen Willen an Strip-Poker-Runden mit Lehrern teilnahm, weil sie den Vorwurf ihres Lehrers, eine »verklemmte schwäbische Spießerin« zu sein, nicht auf sich sitzen lassen wollte. Ein »System aus Machtmissbrauch und Abhängigkeiten« machte die vielen Übergriffe und sexuelle Gewalttaten an der Odenwaldschule erst möglich, glaubt die Journalistin und Autorin heute.
Doch angesichts des öffentlichen Drucks scheint die Odenwaldschule inzwischen eine intensive Auseinandersetzung mit den Geschehnissen der letzten 40 Jahre zu führen. Schulleiterin Margarita Kaufmann, 54, ist erst seit drei Jahren an der Odenwaldschule und gilt als unbelastet. Sie bemüht sich nun um die Aufdeckung einer Geschichte, die nicht die ihre ist. »Es wird eine vollständige Aufarbeitung geben«, hat sie den Opfern versprochen. Kaufmann setzt derzeit viele Reformen an der Schule durch: Sie hat neue Regelungen für die Personalauswahl geschaffen, eine unabhängige Heimleitung installiert und sogar die mittlerweile legendäre »Familienstruktur« der Odenwaldschule, also die Lern- und Wohngemeinschaften von Lehrern und Schülern, infrage gestellt. Auch Fortbildungen und Supervision für Mitarbeiter und Schüler hat sie angeregt. Nun öffnet sich die Odenwaldschule endlich der Außenwelt, um Transparenz zu schaffen. Die Beratungsstelle »Wildwasser« in Darmstadt ist eingeschaltet und die frühere Bundesfamilienministerin Rita Süssmuth wird eine mit Experten aus dem In- und Ausland besetzte externe Kommission leiten, die helfen soll, Missbrauch zu verhindern. Auch ein neuer Vorstandwurde gewählt, unter Leitung des Journalisten und Exschülers Johannes von Dohnanyi. »Wir wollen Modell werden, für wie man mit Missbrauchsopfern umgeht«, sagt von Dohnanyi. Es spricht also einiges dafür, dass die Ereignisse an der Odenwaldschule diesmal ernsthaft aufgearbeitet werden.
»Lobbyarbeit oder Opferschutz?«: Was der Runde Tisch leisten sollte
Doch die Ereignisse in der katholischen Kirche und an der Odenwaldschule dürfen nicht alleiniges Thema der betroffenen Institutionen bleiben – da sind sich alle einig. Denn schließlich findet sexueller Missbrauch von Kindern nicht nur in kirchlichen oder privaten Institutionen statt, sondern auch in Sportvereinen, Jugendhilfeangeboten oder an staatlichen Schulen. Auch diese Institutionen müssen unbedingt sensibilisiert werden für die Gefahr sexuellen Missbrauchs – und auch hier müssen klare und verbindliche Regeln für den Umgang mit Tätern gelten. »Es ist im Augenblick leichter für uns, einen gewalttätigen und übergriffigen Geistlichen aus der Kirche zu bekommen als einen gewalttätigen oder
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