Schaut nicht weg
wurden unsere Förderanträge bei Ministerien überhaupt beantwortet, Gelder für unsere Projekte gab es statt vom Staat meist von privaten Hilfsorganisationen wie »Aktion Mensch« oder von Privatspendern. Und auch die langwierige und letztendlich doch fruchtlose Debatte um Internetsperren zeigte, wie wenig konsequent die Politik gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie vorzugehen vermochte: Nachdem das von Kinderschutzverbänden befürwortete und von Exbundespräsident Horst Köhler unterzeichnete neue Gesetz im Februar sofort wieder verworfen wurde, sollte ein neues Gesetz zur Löschung von Kinderpornoseiten auf den Weg gebracht werden – doch davon ist auch Monate später noch nichts zu sehen. Nun aber zeigt sich endlich Hoffnung am Horizont. Denn seitdem die vielen Missbrauchsskandale in katholischen Bildungseinrichtungen und an Reformschulen bekannt wurden, hat sich die Politik des Themas sexuellen Missbrauchs annehmen müssen. Nun haben wir plötzlich einen »Runden Tisch gegen Kindesmissbrauch« unter Leitung gleich dreier Ministerinnen, eine staatliche »Missbrauchsbeauftragte« und Pläne für Gesetzesänderungen, die Beratungsstellenund Hilfsorganisationen schon seit Jahren fordern. So weit, so gut. Doch wie konnte es sein, dass diese vielen tausende Missbrauchsfälle über so viele Jahrzehnte unter den Teppich gekehrt wurden? Und was muss wirklich getan werden, um auf politischer und gesellschaftlicher Ebene nachhaltige Veränderungen möglich zu machen? An dieser Stelle möchte ich die Ereignisse dieses Jahres, die auch Innocence in Danger e.V. in einem ungeahnten Ausmaß beschäftigten, noch einmal rekapitulieren.
Sexueller Missbrauch am Canisius-Kolleg: Ein Skandal schlägt Wellen
Am 28. Januar diesen Jahres schickte Pater Mertes, amtierender Rektor des Berliner Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg, einen Brief an 600 ehemalige Schüler. Der Anlass: Zwei Exschüler des Kollegs hatten sich bei ihm gemeldet und ihm von Missbrauchserlebnissen in den 1970er und 1980er Jahren durch Patres der Schule berichtet. »Mit tiefer Erschütterung und Scham habe ich diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen«, schrieb Mertes in seinem Brief. »Es gehört zur Erfahrung der Opfer, dass es im Canisius-Kolleg bei solchen, die eigentlich eine Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Opfern gehabt hätten, ein Wegschauen gab.« Doch Mertes will mit dieser Tradition des Wegschauens brechen. Er bietet allen ehemaligen Schülern Gespräche und Aufdeckung an. Doch erst dadurch beginnt das Ausmaß der Verbrechen überhaupt Kontur anzunehmen: Immer mehr Betroffene suchen den Kontakt zu Mertes, zunächst sind es sieben ehemalige Schüler, dann melden sich weitere 15. Mertes hört den Opfern genau zuund versteht in diesen Gesprächen zum ersten Mal, »welch tiefe Wunden sexueller Missbrauch im Leben junger Menschen hinterlässt und wie die ganze Biografie eines Menschen dadurch jahrzehntelang verdunkelt und beschädigt werden kann«. Schließlich erklärt der Pater, er habe nun großes Verständnis dafür, wenn »Betroffene aufgrund ihrer Erfahrung für sich die Entscheidung getroffen haben, mit dem Kolleg, mit dem Orden und mit der katholischen Kirche insgesamt zu brechen«.
Der mutige Pater Mertes konnte nicht ahnen, welch eine Lawine er mit seiner Haltung der schonungslosen Offenlegung lostreten würde. Denn bei den Fällen am Canisius-Kolleg bleibt es nicht. Auch aus dem Benediktinerkloster Ettal und von den Regensburger Domspatzen werden lang zurückliegende Missbrauchsfälle bekannt. Die katholische Kirche sieht sich gezwungen zu reagieren und ernennt Ende Februar den Trierer Bischof Stephan Ackermann zum ersten Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz. Höchste Zeit, denn nun geht eine weitere Welle des Erinnerns und der Aufdeckung über das Land: Anfang März melden bereits 20 der 27 Bistümer vergangene Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder oder Jugendliche, Anfang April schließlich schaltet die katholische Kirche eine Telefon-Hotline frei für Menschen, die an kirchlichen Institutionen Opfer sexueller Gewalt wurden. Am ersten Tag gehen 4500 Anrufversuche bei der völlig überlasteten Hotline ein. Im Mai legt die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens, Ursula Raue, ihren Abschlussbericht vor: Sie zählt 205 Opfer, Jungen und Mädchen zwischen elf und 17 Jahren, »doch wir können nicht davon ausgehen, dass wir alle Opfer
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