Schaut nicht weg
sexuellen Übergriffen werden lassen können. Gefährdet sind hingegen vor allem Kinder und Jugendliche, die bindungsverunsichert sind, eine konflikthafte Beziehung zu ihren Eltern haben oder unsicher ob ihrer sexuellen Orientierung sind. Mit etwas gesundem Menschenverstand könnte man also sagen: Diejenigen Kinder, die weniger gefährdet sind, sind die, denen es gut geht, die ein ordentliches Selbstbewusstsein haben und die sozial gut eingebettet sind. Das Wohlergehen unserer Kinder und deren Fähigkeit, in unserer sexualisierten Gesellschaft ein klares Gespür für den eigenenSelbstwert und die eigenen Grenzen zu entwickeln, hängt also vor allem auch davon ab, wie wir es ihnen als Eltern vorleben.
Stabile Kinder, stabile Erwachsene: Warum wir bessere Vorbilder für unsere Kinder sein sollten
Doch was leben wir unseren Kindern heute vor? Oft leben wir ihnen vor, dass Äußerlichkeiten immens wichtig sind. Wir leben ihnen vor, dass auch wir keine gesunde Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit ziehen können. Wir leben ihnen vor, dass Beziehungen nicht tragfähig sind. Und wir leben ihnen vor, dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir etwas leisten. Eigentlich müssen wir uns gar nicht wundern, dass unsere Kinder heute oft überfordert von medialen Bildern und gesellschaftlichen Anforderungen sind – denn auch wir liefern ihnen bisweilen keine tauglichen Vorbilder. Mit der zunehmenden Auflösung der Kernfamilie entziehen wir ihnen überdies die Kraft, die sie bräuchten, um aus einem Gefühl der Sicherheit heraus ihren eigenen Platz in der Welt finden zu können.
Auch wir Erwachsene zum Beispiel definieren unseren Selbstwert oft genug über Äußerlichkeiten und sexuelle Attraktivität. Denn wir sind eine Elterngeneration, die ein großes Problem mit dem Altwerden hat. Die ihren Kindern die sexuelle Identitätsfindung und Orientierung noch erschwert, indem sie in Konkurrenz mit ihnen tritt. In meinem Bekanntenkreis kann ich mich häufig des Eindrucks nicht erwehren, dass der natürliche Alters- und Generationsunterschied zwischen Müttern und Töchtern, Vätern und Söhnen zu verwischen scheint. Mütter kleiden sich in Leggins und Minirock wie ihre zwölfjährigen Töchter, besuchen dieselbenPussycat-Dolls-Konzerte und schauen gemeinsam die Gilmore Girls. Sie sind die besten Freundinnen ihrer Töchter und teilen mit ihnen Intimitäten, die eigentlich in keine Mutter-Tochter-Beziehung gehören: Eheschwierigkeiten und Seelenleid, Beziehungskonflikte und sexuelle Probleme. Väter tragen dieselben Turnschuhe und Parkas wie die Söhne und haben womöglich Freundinnen, die nur unwesentlich älter als ihre Kinder sind. Sie laden dieselben Songs auf ihre iPods und gehen in dieselben Filme. Dabei verlieren die Kinder oft das, was sie in der verwirrenden Zeit der Pubertät am notwendigsten hätten: Eltern, von denen sie sich abgrenzen können, um selbst zu einer eigenen Identität zu finden. Eltern, die sie bisweilen alt und doof finden können, Eltern zum Sich-Reiben und Sich-Anlehnen. »In gewisser Weise besteht die elterliche Funktion während der Pubertät darin, die wuterzeugende Widersprüchlichkeit des Heranwachsenden auszuhalten und durchzustehen«, erklärt der Berliner Pädagoge und Psychotherapeut Joachim Braun. »Je mehr sich Jugendliche in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit von Wut, Zuneigung, Trauer und Abhängigkeit an ihren Eltern austoben und abarbeiten können, desto befreiter werden sie erwachsen.« Doch gerade diese Gelegenheit bieten wir unseren Kindern oft nicht mehr – weil wir selbst um keinen Preis altern wollen. Und dann wundern wir uns, wenn unsere Kinder sich exzessiv mit dem eigenen Körper beschäftigen?
Überhaupt neigen wir heute dazu, unsere Kinder zu überfrachten – nicht nur mit unseren eigenen Problemen, sondern auch mit unserem Ehrgeiz und unseren Anforderungen. Kinder werden zum Projekt der Eltern und sollen in unserer leistungsorientierten Gesellschaft schon mithalten können, bevor sie überhaupt das erste Wort schreiben. Ich beobachte immer wieder, dass in meinem Umfeld das Lebenvieler Jungen und Mädchen komplett durchorganisiert ist. Wenn man sich anschaut, wie viele Termine die Kinder heute haben, dann kann einem tatsächlich Angst und Bange werden: Angefangen bei »Mini-Mozart« und »Mini-Van Gogh« über Ballett, Klavier, Turnen, Yoga, Englisch, Hockey, Geige, Tanzen, Fußball, Schwimmen bis hin zu Chinesisch und Schach sollen die lieben Kleinen bloß eine
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