Scheherazade macht Geschichten
sonderlich.
Sie fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, den fliegenden Teppich zu lenken oder anzuhalten, doch sie fürchtete, ihren Untergang nur noch schneller herbeizuführen, wenn sie den Teppich zum Beispiel plötzlich zum Stehen brachte und er wie ein Sack voller Steine auf den tief unter ihr liegenden Boden stürzte. Sie dachte auch daran, einfach die Augen zu schließen und ein Stoßgebet zu Allah zu schicken, doch wenn dies schon ihre letzten Minuten hier auf Erden sein sollten, dann wollte sie wenigstens jede Einzelheit davon mitbekommen.
Noch immer flog der Teppich weiter, ohne seinen Kurs zu ändern. Die Bäume kamen immer näher. Für einen Augenblick hoffte Scheherazade, daß der Teppich vielleicht zwischen den Ästen würde hindurchfliegen können, doch das Immergrün vor ihr wuchs so dicht, daß es wie eine Wand wirkte. Vielleicht war es doch besser, die Augen zu schließen.
Irgend etwas vor ihr ächzte und stöhnte. Scheherazade blinzelte und sah, wie die Bäume sich vor ihnen nach links und rechts neigten und dem Teppich damit genügend Platz verschafften, um hindurchzufliegen. Und hinter den Bäumen erwartete sie nicht etwa die undurchdringliche Granitwand des Berges, sondern eine Höhle, die groß genug war, daß sie ohne Probleme hineinfliegen konnten. Plötzlich fand sich Scheherazade also in Dunkelheit getaucht, als der Teppich in die Höhle hineinschoß, ohne sein Tempo zu verringern. Es ist möglich, daß sie einen Schrei ausstieß, aber das gewaltige Rauschen des Fahrtwindes erstickte jedes andere Geräusch.
Und dann tauchte sie ebenso plötzlich wieder in helles Licht hinein. Der Teppich hatte sie in ein riesiges Gewölbe gebracht, das eine unterirdische Kammer des Berges sein mußte und auf geheimnisvolle Weise von glühenden Stalagtiten erleuchtet wurde. Unter ihr lag ein großer Palast, der sich so weit ausdehnte, daß König Shahryars prunkvolles Domizil mehr als dreimal hineingepaßt hätte. Der Palast funkelte im seltsamen Licht der Höhle. Seine Wände glitzerten, als bestünden sie aus kostbaren Juwelen, und die Dächer der Minarette glänzten, als wären sie aus Gold gemacht.
Der Teppich begann zu kreisen und senkte sich, immer langsamer werdend, auf den Boden der Höhle zu. Scheherazade erkannte, daß sie auf einen freien, flachen Platz direkt vor den Toren des Palastes zuhielten. Unmittelbar hinter diesen Toren wartete eine große Menschenmenge auf sie. Nein, wenn sie genauer hinsah, konnte sie feststellen, daß es nur Frauen waren.
»Sei gegrüßt, Scheherazade!« riefen sie wie aus einem Munde, als der Teppich auf dem Boden aufsetzte.
Das hieß also, daß sie erwartet wurde.
Eine der Frauen trat rasch auf sie zu. Sie war noch sehr jung, doch ihr sicherer Schritt verriet, daß sie großes Selbstvertrauen besaß.
»Wir haben schon ganz ungeduldig auf deine Ankunft gewartet«, sagte die junge Frau.
»Und ich konnte es kaum erwarten, anzukommen«, gestand Scheherazade. »Wie heißt dieser Ort, zu dem der Teppich mich gebracht hat?«
»Oh«, meinte die junge Frau, »ich vergesse meine gute Erziehung. Sei willkommen im Palast der Schönen Frauen. Ich bin selbst noch nicht sehr lange hier. Mein Name ist Marjanah.«
»Der Palast der Schönen Frauen?« fragte Scheherazade erstaunt. »Das hört sich nach einer interessanten Geschichte an.«
»In der Tat gibt es in diesem Palast so viele Geschichten zu erzählen, wie es Frauen darin gibt«, lautete Marjanahs Antwort. »Doch dafür haben wir im Augenblick keine Zeit, denn ich wurde von der Alten Weisen geschickt. Ich soll dich sofort zu ihr bringen.«
»Ah, ja«, stimmte Scheherazade ihr zu. »Und lerne ich dann endlich mein Schicksal kennen?«
»So einfach ist es leider nicht, o edle Scheherazade«, erwiderte Marjanah nüchtern. »Denn in deiner Hand liegt das Schicksal aller, die in diesem Palast gefangen sind!«
Das 30. der 35 Kapitel,
in dem eine Alte Weise ihrer Zeit voraus ist – ganz zu schweigen von allem anderen.
»Dies ist ein sehr schöner Ort«, sagte Scheherazade, als Marjanah sie durch das Tor und die Stufen hinauf zum Palast führte. »Allerdings ist er auch ausgesprochen seltsam.«
»Ja«, stimmte ihr Marjanah zu und warf einen Blick auf die juwelengeschmückte Fassade des Gebäudes vor ihnen, das mindestens hundert Ellen hoch und zweihundert Ellen breit war. »Der Palast der Schönen Frauen ist zweifellos einmalig, und das nicht nur, was seine Größe, sein Aussehen und seine Lage betrifft. Denn
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