Scheherazade macht Geschichten
mag.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir benötigen beide einfach nur dringend etwas Schlaf.«
»Nun, vielleicht ist das wirklich der Grund, warum wir keinen klaren Gedanken fassen und eine Lösung der Rätsel finden können«, stimmte ihr Scheherazade zu. »Ich schlage daher vor, diesen Schlaf so rasch wie möglich nachzuholen, bevor wieder etwas dazwischenkommt.«
Doch noch während sich die beiden Schwestern unterhielten, hörten sie tief im Innern des gewaltigen Palastes einen dumpfen Gong dreimal schlagen.
»Macht Euch bereit!« verkündete eine Fistelstimme unmittelbar hinter ihnen. »Die Sultana beehrt Euch mit ihrer Gegenwart!«
Die Schwestern sprangen gleichzeitig von ihrem Diwan auf, denn keine von beiden hatte gehört, wie Omar sich ihnen genähert hatte, noch hatten sie bemerkt, daß die Tür geöffnet worden war.
»Die Sultana?« forschte Dunyazad nach, während sie versuchte, sich von ihrem Schreck zu erholen.
»Die Mutter unseres edlen Königs«, erklärte Omar für alle, die mit diesem besonderen Titel nicht vertraut waren. »Es ist eine große Ehre für Euch, von der Sultana besucht zu werden, denn sie hat keiner einzigen Eurer dreihundert Vorgängerinnen die Gnade ihrer Gegenwart erwiesen. Natürlich könnte das auch etwas damit zu tun haben, daß diese dreihundert Vorgängerinnen gar nicht lange genug in diesen Gemächern verweilten, um auch nur an solch einen königlichen Besuch zu denken. Zumindest...«, und er hüstelte verlegen, »... weilten sie nicht lange genug unter den Lebenden. Doch was soll's? Ein Besuch der Sultana ist die höchste Auszeichnung, die einem im Harem zuteil werden kann, und wenn er vorbei ist, dann könnte man leicht auf den Gedanken kommen, sein Leben hinzugeben, hat man doch dessen höchste Erfüllung bereits erlangt!«
Scheherazade, die sich während der langen Rede des dicken Omars von ihrem Schreck erholt hatte, versicherte ihm, daß dies alles äußerst ermutigend sei, wobei sie allerdings sehr darauf bedacht war, den Punkt mit dem erfüllten Leben, das man freudig hingab, nicht noch einmal zu erwähnen. Statt dessen wollte sie Omar nach dem Wesen und dem Charakter der Sultana fragen, damit sie ihr einen angemessenen Empfang bereiten konnte. Doch noch bevor sie ein Wort über die Lippen brachte, trat der Bursche, der nur danach streben konnte, Oberster Eunuche des ganzen Harems zu werden, zur Seite und verkündete: »Hier kommt unsere allerheiligste Sultana, der sich jeder zu Füßen wirft!«
Scheherazade fragte sich einen kurzen Augenblick, ob dieser letzte Hinweis nur eine Ehrenbezeichnung für die alte Dame war, oder ob Omar ihnen damit durch die Blume zu verstehen geben wollte, wie Scheherazade und Dunyazad sich zu verhalten hätten. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, betrat eine in tiefstes Blau gewandete Frau den Raum, die Omar an Umfang in nichts nachstand.
Scheherazade wollte sie begrüßen und begann: »Willkommen, o Sultana, durchlauchteste aller...«
»Du wagst es, in meiner Gegenwart zu stehen?« keifte die Sultana. »Es wurden schon andere für weit geringere Vergehen geköpft. Aber warum sollte ich mir heute darüber den Kopf zerbrechen, wenn du deinen schon morgen mit Sicherheit verlieren wirst? Eine Sultana verschwendet keine unnötigen Energien.«
Aha, dachte Scheherazade. Omars Worte waren also ein Hinweis gewesen, wie sie sich hätten verhalten sollen. Außerdem war Scheherazade äußerst überrascht darüber, daß es der Sultana, obwohl sie ein gutes Stück kleiner war als die beiden Schwestern, dennoch gelang, auf sie herabzublicken.
Scheherazade deutete eine leichte Verbeugung an, und ihre jüngere Schwester tat es ihr nach. »Es tut mir leid, wenn es zu einem Mißverständnis gekommen ist.« Sie drehte sich zu ihrer Schwester um, damit auch Dunyazad es verstand: »Die Sultana ist nämlich die zweitwichtigste Frau im Königreich – nach der Königin.«
Die Sultana gab ein Geräusch von sich, das man sonst eher von einer gewissen Sorte Schlachtvieh gewohnt war, das in diesem Fall aber eher von Überraschung zeugte als von einer unausgewogenen Kost. In der Zwischenzeit wunderte sich die neue Königin über sich selbst. Warum hatte Scheherazade, die doch so gut erzogen war und die bisher jedermann gegenüber stets nur äußerste Höflichkeit hatte walten lassen, sich so weit gehen lassen und ihrer Stimme sogar einen Anflug von Verärgerung anmerken lassen? Und warum wohl schien ihr die Sultana zu den lästigsten Frauen
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