Scheherazade macht Geschichten
zu gehören, die sie je zu Gesicht bekommen hatte? Nun, wahrscheinlich war es ratsam, erst einmal abzuwarten, was das Schicksal noch für sie und Dunyazad bereithielt.
»Wie kannst du es wagen?« platzte die Sultana schließlich heraus. »Gewiß hätte ich dich längst schon köpfen lassen, wenn es, wie gesagt, der Mühe überhaupt wert wäre. Immerhin ist es wichtig, daß mein Sohn seinen kleinen Grillen frönen kann, ohne daß sich seine Eltern einmischen.«
Scheherazade schluckte die Erwiderung hinunter, die ihr auf der Zunge lag und die, was das Thema Einmischung betraf, recht deutlich ausgefallen wäre. Statt dessen rang sie sich dazu durch, ihrem ersten Eindruck einmal nicht soviel Gewicht beizumessen und diese alte Frau da vor ihr in den Genuß eines ihrer weisen Ratschläge kommen zu lassen. »Ist es Euch niemals zuvor in den Sinn gekommen«, fragte sie daher, »daß Euer Sohn verflucht sein könnte?«
»Verflucht?« wollte die Sultana wissen. »Wie kannst du es wagen! Ich muß schon sagen, meine Meinung über dich beginnt sich langsam zu ändern. Ich glaube fast, daß es die Luft in diesen Gemächern erheblich verbessern würde, wenn ich dich köpfen ließe.«
Diese letzte Bemerkung war selbst für Dunyazad zuviel. »Aber der König hat dreihundert Frauen getötet. Ganz sicher ist hier jemand verflucht!«
»Genau!« kreischte die Sultana. »Könnt ihr euch denn überhaupt das Ausmaß des Unglücks vorstellen, unter dem mein Sohn zu leiden hat? Was für ein Pech, dreihundert Frauen zu treffen, die alle mit einem derart schrecklichen Fluch belastet sind?« Sie hielt einen Moment inne, um Scheherazade einen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen. »Oder sollte ich nicht besser dreihundertundeine Frau sagen?«
Aber in diesem Punkt war Scheherazade unerbittlich. »Da muß ich Euch aber widersprechen. Wenn mein Hiersein überhaupt einen Zweck hat, dann den, Euren Sohn von dem Joch des Kummers zu befreien, das auf seinen Schultern lastet.«
»So ist das also.« Die Sultana nickte bedächtig. »Ich habe schon gehört, daß du ein flinkes Mundwerk besitzen sollst, das selbst die Rechtschaffensten unter uns zu täuschen vermag. Einen Moment lang habe sogar ich, die Beschützerin der Ehre meines Sohnes, geglaubt, daß du ganz vernünftig klingst. Wahrlich, gefährlich bist du – und nicht nur für den König, nein, für das ganze Königreich!«
Scheherazade konnte nichts anderes tun als dastehen und diese Frau anstarren, deren Gedankensprünge unmöglich nachzuvollziehen waren.
»Und dennoch«, fuhr die Sultana fort, die anscheinend sehr zufrieden darüber war, daß niemand ihr widersprach, »wünsche ich nicht, mich in die Angelegenheiten meines Sohnes einzumischen, denn ich spüre, daß mein Shahryar sehr viel glücklicher ist, wenn er vollkommen freie Hand hat. Wenn es dir allerdings weiterhin gelingen sollte, deiner wohlverdienten Hinrichtung zu entgehen, werde ich gezwungen sein, meine Entscheidung neu zu überdenken. So bedauerlich es auch sein mag, es hat früher schon einige tödliche Unfälle in diesem Harem gegeben.«
Kaum hatte sie das gesagt, lächelte die Sultana, drehte sich um und schob ihren ausgesprochen voluminösen Körper durch die Doppeltüren, die von den Gemächern der Königin auf den dahinter liegenden Hof hinausführten.
»Oh«, rief Omar ihr nach, »welch eine Ehre, von der ruhmreichen Sultana besucht zu werden! Ich glaube, es ist Zeit für ein kleines Gedicht!«
Und so begann er erneut seine Verse zu rezitieren. Die Sultana verlangsamte ihre Schritte allerdings nicht, um diesem Loblied zuzuhören. Im Gegenteil: Omars Reime schienen sie eher zu noch größerer Eile anzutreiben.
Seid Ihr so gnädig und erscheint in uns 'rer Mitte,
macht Ihr einen Palast aus jeder schäb'gen Hütte!
Und überglücklich schätzet sich ein jeder Mann,
wenn er vor Euch auf dem Boden kriechen kann!
Es folgte eine ganze Anzahl weiterer Verse, und gnadenlos reimte Omar ›stoßen‹ mit ›Rosen‹ und ›verbeugen‹ mit ›einhergehen‹ und ›göttlich‹ mit ›schrecklich‹ und ›Marktplatz‹ mit ›allergrößten Schatz‹. Der Länge dieses epischen Meisterwerkes nach zu urteilen, hätte die Sultana nicht nur Zeit gehabt, den Harem zu verlassen, sondern den ganzen riesigen Palast und die umliegende Stadt. Und nachdem er so eine ganze Weile lang seine Verse ausgerufen und es dabei sogar geschafft hatte, sich zu verbeugen, nahm auch Omar von den Schwestern Abschied. Er ließ noch ein
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