Scheherazade macht Geschichten
Eindruck eines jungen Mannes in der Blüte seiner Jahre, dennoch lag er reglos auf einem Diwan, und nur sein Mund öffnete und schloß sich zu den Worten seines traurigen Liedes. Zwischen den einzelnen Strophen quollen ihm dicke Tränen aus den Augen, während er leise vor sich hinweinte.
›Ist etwas nicht in Ordnung, junger Mann?‹ fragte der Sultan und trat in das Gemach.
›Nur die ganze Welt‹, entgegnete der Jüngling, was vielleicht etwas dramatisch war, aber ganz der Art der Jugend entsprach.
Dem Sultan war dies genug der Plauderei, und daher meinte er: ›Tut mir wirklich leid, das zu hören, aber wißt Ihr vielleicht um das Geheimnis jenes Sees und jener wundersamen Fische hier ganz in der Nähe?‹
›Ihre Geschichte ist auch meine Geschichte – und mein Leiden‹, antwortete der Jüngling. Gleich darauf schlug er die goldene Decke zur Seite, die ihn bisher bedeckt hatte, und dem Sultan blieb vor Staunen die Luft weg. Denn während der Körper des jungen Mannes bis zu seiner Hüfte aus dem festen Fleisch und den harten Muskeln der Jugend bestand, so war er von der Hüfte an abwärts ganz aus Marmor.
›Möchtet Ihr meine Geschichte hören?‹ fragte der Jüngling.
NICHT NUR DER HEREINBRECHENDE MORGEN,
AUCH DUNYAZAD UNTERBRICHT WIEDER
EINMAL DIE GESCHICHTE
»Verzeih mir, o Schwester«, unterbrach Dunyazad. »Der Morgen zieht schon wieder herauf. Ich halte es für unklug, wenn wir erneut so lange wach bleiben, bis die Geschäfte des Tages uns rufen. Es ist wohl besser, wenn wir noch ein wenig zu schlafen versuchen. Das wird uns allen bestimmt gut tun, denn wie sagte einmal eine weise Frau: Eine allzu helle Kerze brennt doppelt so schnell nieder.«
In der Tat war es Dunyazad, die sich in dieser Angelegenheit als sehr weise erwies, dachte Scheherazade, denn je ausgeruhter der König war, desto eher würde er in der Lage sein, dem Fluch der Schwerter zu widerstehen.
»Welch vorzügliche Idee«, meinte Shahryar. »Wenn ihr mich bitte entschuldigen wollt.«
Und fast augenblicklich sank er in tiefen Schlaf. Wahrlich, dachte Scheherazade, die Sorgen des Alltags mußten ihn stark mitgenommen haben, wenn er derart schnell einschlafen konnte.
Vielleicht hätte die Tatsache, daß der König ein wenig Erholung fand, auch Scheherazade beruhigen können, wenn da nicht diese wilden Zuckungen gewesen wären, die Shahryar auf seinem Diwan vollführte. Es war offensichtlich, daß er nicht sehr friedlich schlief und von schlechten Träumen geplagt wurde. Und in diesen Alpträumen murmelte er immer wieder jenes eine Wort, das Scheherazade leider schon so oft aus seinem Munde gehört hatte.
Dennoch sank auch sie schließlich in einen unruhigen Schlaf. Ihre Hände allerdings legten sich, dabei wie von selbst schützend um ihren Hals.
Das 17. der 35 Kapitel,
in dem sich erneut ein Fluch
auf seinen Hühnerbeinen regt.
Am folgenden Morgen erwähnte der König Schwerter mit keinem Wort. Shahryar war ausgesprochen guter Laune und machte sich sogleich daran, sich auf den anstrengenden Tag am Hof vorzubereiten. Obwohl sie vermutete, daß diese Besserung nur vorübergehend sein würde, zwang sich auch Scheherazade zu guter Laune. War sie denn nicht immer noch am Leben? Und je länger sie lebte, um so größer wurden die Chancen, daß sie die Rätsel, die im Palast herrschten, doch noch löste.
Als die beiden Schwestern in den Harem zurückkehrten, warteten dort die drei Dienerinnen auf sie.
»Ja, es ist tatsächlich wahr!« begrüßte sie die älteste Magd voller Begeisterung. »Es ist genau das eingetroffen, was Ihr vorhergesagt habt, und der Fluch hat uns nicht bis in diese Gemächer verfolgt! Niemand von uns hat sich in ein Tier verwandelt!«
Das waren endlich einmal gute Neuigkeiten. Vielleicht, so überlegte Scheherazade, gelang es ihr doch noch, sich ein wenig zu entspannen. Zuerst erkundigte sie sich jedoch, ob es während der Nacht irgendwelche Besucher gegeben hätte.
»Keinen einzigen«, antwortete eine der Frauen. »Nun, da war Omar«, schränkte die zweite ein, »aber er hat kaum seinen Kopf in den Raum gesteckt.«
»Bei Allah, er war wirklich überrascht, als er uns drei hier entdeckte!« stimmte die älteste zu. »Er ist fast augenblicklich wieder verschwunden.«
»Schneller noch als augenblicklich!« fügte eine andere Dienerin hinzu.
Alle drei Frauen lachten.
»Nun gut«, meinte Scheherazade, und auch auf ihre Lippen stahl sich ein Lächeln. »Ihr könnt nun tun und lassen, was ihr
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