Scheherazade macht Geschichten
wollt, aber meine Schwester und ich müssen uns ausruhen.«
»Wir haben auch außerhalb dieser Gemächer noch Pflichten zu erledigen«, stimmte ihr die älteste zu, »doch schulden wir Euch Dank dafür, daß Ihr den Fluch von uns genommen habt. Daher wird eine von uns stets in Eurer Nähe bleiben, während Ihr schlaft, und aufpassen, daß Euch nichts zustößt.«
Nur zwei der Dienerinnen, und eine davon war die älteste, brachen also auf, während die dritte zurückblieb und sich taktvoll im Hintergrund hielt. Und so legten sich Scheherazade und Dunyazad also nieder, um einige Stunden Schlaf zu suchen.
Doch als Scheherazade gerade am Einschlafen war, schreckte ein Ruf ihrer Schwester sie wieder auf.
»Habe ich da eine Stimme gehört?« fragte sie.
»Ich glaube, ich habe auch etwas gehört«, stimmte ihr die Dienerin zu, »obwohl ich bezweifle, daß es sich um die Stimme eines Menschen handelte. Ich glaube außerdem, daß sie vom Balkon kam.«
Das brachte auch Scheherazade dazu, die Augen zu öffnen, und tatsächlich, auch sie vernahm ein entferntes Glucksen.
»Das ist kein Mensch!« rief Dunyazad. »Das ist der Ruf eines Hühnchens! Dem muß ich nachgehen!«
»Nein«, widersprach die Dienerin, »Ihr müßt bleiben und Euch ausruhen. Das Huhn wird aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso verschwinden, sobald sich ihm jemand nähert, wie es das schon mehrere Male zuvor getan hat. Aber ich muß versuchen, mit ihm zu reden, denn was nun ein Huhn ist, war früher einmal eine meiner Schwestern und Freundinnen.«
Sprachs, stand auf und lief quer durch den Raum zum Balkon. Diesmal jedoch wurde das Gackern intensiver, statt zu verklingen, und auch die Stimme der Dienerin wurde immer lauter und ungeduldiger. »Wo bist du? Ich kann dich hören, aber nicht sehen.«
Vielleicht, überlegte Scheherazade, sollte sie auch auf den Balkon hinaustreten und beim Suchen helfen. An Schlaf war bei diesem Lärm auf jeden Fall nicht zu denken.
Erneut war das Gackern zu hören.
»Oh, da bist du!« erklang die Stimme der Dienerin.
Und dann ertönte ein Schrei.
Sowohl Scheherazade als auch Dunyazad sprangen von ihrem Lager auf und liefen barfuß zum Balkon. Auf den ersten Blick war weder die Dienerin noch das Huhn zu sehen, doch das Holzgeländer, das um den Balkon lief, war an einer Stelle zerbrochen.
Dunyazad trat einen Schritt vor, um sich diese Stelle genauer anzusehen, und da drohte ihr Herz stehenzubleiben.
»Scheherazade!« rief sie. »Das kann nicht sein!«
Scheherazade trat ebenfalls einen Schritt näher, um zu sehen, was ihre Schwester so sehr erregte. Und dort, ein ganzes Stück unter ihnen, lag die Dienerin. Sie war etwa zwanzig Ellen tief auf das steinerne Pflaster des Hofs gefallen, und dort lag sie noch immer mit Armen und Beinen, die in einem Winkel von ihr abstanden, der nicht der natürlichen Ordnung der Gliedmaßen entsprach.
Scheherazade sah sich die Stelle, an der das Geländer nachgegeben hatte, ganz genau an. Das Holz sah aus, als wäre es Splitter um Splitter durchhackt worden – ja, es erweckte ganz den Eindruck, als wäre es vom Schnabel eines Huhns durchpickt worden.
Ha! dachte Scheherazade. Man hatte ihr ja schon öfters vorgeworfen, eine allzu blühende Phantasie zu haben. Und die mußte jetzt wohl mit ihr durchgegangen sein, denn sicher gab es eine andere Erklärung für den tragischen Vorfall. Eines bewies der reglose Körper der Dienerin jedoch, nämlich daß es leider Arten gab, einem Fluch zu erliegen.
Es war eine der Köchinnen, die die Gestürzte entdeckte, und es erhob sich ein lautes Wehklagen und Weinen, als alle Bewohner des Harems herbeigeeilt kamen, um einen letzten Blick auf ihre tote Schwester zu werfen.
Schließlich trat Omar auf den Hof, um das Wegschaffen des Leichnams zu überwachen. Die Art und Weise, wie er sich dabei über die Stirn fuhr und an seinen Ohrringen zupfte, ließ erkennen, daß auch er betroffen war.
Und trotz allen Leids fand Scheherazade Zeit, sich darüber zu wundern.
Das 18. der 35 Kapitel,
in dem wir erfahren, daß es mehr als nur einen Schönheitsschlaf erfordert, schön zu sein.
Und so verwandelte sich der Morgen in den Nachmittag, und – tote Dienerin hin, tote Dienerin her – es wurde wieder einmal Zeit für Scheherazade und Dunyazad, sich auf den Besuch beim König vorzubereiten.
»Wir müssen die Königin vorbereiten«, meinte dann auch die ältere Dienerin tränenerstickt.
»Und ihre Schwester auch?« jammerte die jüngere Dienerin.
Weitere Kostenlose Bücher