Scheherazade macht Geschichten
ihr. Niemals zuvor hatte Scheherazade ihre Schwester so voller Anmut gesehen. Dunyazads Lächeln war heller als das Licht des Mondes, und ihre Augen waren so kunstfertig geschminkt, daß allein ihre Farbe ausgereicht hätte, schwache Männer den Verstand verlieren zu lassen.
»Du hast gute Arbeit geleistet«, lobte Scheherazade die neue Dienerin.
»Dies ist nur ein Bruchteil von dem, was ich zu tun imstande bin«, meinte die Frau in Schwarz in aller Bescheidenheit. »Es gibt nichts, was ich nicht tun kann, wenn ich genügend Zeit zur Verfügung habe.«
Warum bloß hörte Scheherazade aus jedem Wort dieser Frau einen finsteren Unterton heraus? Doch dann vernahm sie das verzückte Lachen Dunyazads und entschied, daß es keinen Grund gab, etwas verdächtig zu finden, das ihre Schwester derart große Freude bereitete.
»Doch kommt nur!« rief Omar hinter ihnen. »Bald wird der Gong geschlagen, der den Abend verkündet! Wir müssen aufbrechen!«
»Ja, Schwester, laß uns gehen«, Dunyazad hielt mitten im Satz inne, während sie vergeblich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, »denn so schön, wie wir heute abend sind, wollen wir uns dem König doch nicht vorenthalten.«
Also drehten sich die beiden Frauen um und folgten Omar zum Palast Shahryars.
Dunyazad hielt sich die Hand vor den Mund, als sie erneut gähnen mußte, diesmal noch ausgiebiger als zuvor.
»Verzeih mir, Schwester«, entschuldigte sie sich, »ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Das liegt sicher an Euren unregelmäßigen Schlafgewohnheiten«, warf ihnen Omar über die Schulter zu. »Obwohl Ihr noch jung seid, dürft Ihr nie vergessen, daß auch Ihr nicht ewig leben werdet!«
»Das und das wohltuende Bad und all die anderen angenehmen Vorbereitungen«, stimmte Dunyazad ihm verträumt zu. »All das hat mich wohl so sehr entspannt, daß mir jetzt die Augen zufallen und ich gerne ein kleines Schläfchen hielte.«
Als er das hörte, mußte Omar kichern. »Wahrlich, Eure Schwester ist ja eine richtige Spaßmacherin. Der König wartet!«
»Der König wartet«, stimmte ihm Dunyazad erneut zu, und die Worte kamen ihr immer langsamer über die Lippen. Scheherazade warf einen Blick auf ihre Schwester und sah, daß sie tatsächlich Schwierigkeiten hatte, die Augen offenzuhalten.
»Der – König – wartet«, wiederholte Dunyazad und gähnte noch einmal. Verzückt deutete sie auf eine Stelle am Boden. »Aber – diese Kissen – warten – auch. Liebe Schwester – du entschuldigst – mich – sicher – für einen Augenbli...« Und damit fiel sie auf die Kissen und begann laut zu schnarchen.
»Was hat das zu bedeuten?« kreischte Omar. »Was ist los?«
»Meine Schwester ist in einen tiefen Schlaf gefallen«, erklärte Scheherazade bedächtig, denn auch sie war durch diesen völlig unvorhergesehenen Zwischenfall überrascht.
»Ist Eure Schwester denn so faul«, wollte Omar wissen, »daß sie sogar den Zorn des Königs in Kauf nimmt?«
Doch Scheherazade kannte Dunyazad gut genug, um den wahren Grund, der hinter diesem Vorfall steckte, zu erahnen. »Sie schläft nicht, weil sie faul ist«, verkündete Scheherazade, »sie schläft, weil sie verzaubert ist.«
»Verzaubert?« schrie Omar mit noch schrillerer Stimme als zuvor. »Hier in diesem Palast ist überhaupt niemand und nichts verzaubert!«
Aber sicher doch, dachte Scheherazade bitter, sagte aber nichts. Und der König hat in den letzten dreihundert Nächten auch keinen einzigen Kopf von keiner einzigen Schulter getrennt!
»Doch kommt«, beharrte Omar, »wir sind schon viel zu spät. Der König wartet!«
Damit zumindest hatte der Eunuche recht.
Scheherazade warf einen letzten Blick auf ihre schlafende Schwester, bevor sie hinter ihm hereilte.
Heute abend würde sie dem König alleine gegenübertreten müssen.
Das 19. der 35 Kapitel,
in dem es unserer Geschichtenerzählerin
einige Male die Sprache verschlägt.
Zum Glück war Scheherazade stets gut vorbereitet. Sie hatte am Abend zuvor, als sie ihre Geschichte unterbrochen hatte, eine klare Vorstellung davon gehabt, wie die Handlung sich fortentwickeln würde, und diese Vorstellung hatte sie auch jetzt noch – trotz aller Aufregungen der vergangenen Stunden.
Als sie sich den Gemächern des Königs näherten, unterwies sie Omar, ihre Schwester auf keinen Fall zu stören, bis sie, die Königin, wieder in den Harem zurückkehrt wäre. Scheherazade glaubte nicht, daß sich Dunyazad in unmittelbarer Gefahr befand, solange sie
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