Scheinbar verliebt
dabei, seine Gefangene nicht aus den Augen zu lassen.
„Warum warst du eigentlich nicht in der Schule?“, fragte Lucy.
Marinell zuckte nur mit den Schultern.
Lucy war schockiert gewesen, als Morgan ihr erzählt hatte, dass Marinell bis zu ihrem Wintersemester zu den besten Schülern gehört hatte. Viele Mädchen, die nach Saving Grace kamen, hatten mit Schule nichts am Hut. Wie sollte man sich auch auf die Hausaufgaben konzentrieren, wenn man nicht einmal wusste, wo man in der Nacht schlafen sollte oder ob man überhaupt etwas zu essen finden würde?
„Marinell sagt, sie würde mit Ihnen nach Hause gehen?“
„Sie haben gesagt, ich kann mich jederzeit an Sie wenden, wenn ich Hilfe brauche“, sagte Marinell schnell. „Ich meine, ich hatte eigentlich vor, im Hilton zu übernachten, aber irgendwo scheine ich meine American Express verloren zu haben.“
„Natürlich kannst du mit mir ins Saving Grace kommen“, stimmte Lucy zu. Du kannst da nur nicht leben . „Ich dachte, du bleibst bei ein paar Freunden?“
Mit gesenktem Kopf antwortete das Mädchen leise: „Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben.“
„Sie kann jederzeit gehen. Wir haben keinen Grund, sie hier zu behalten.“ Der Detectiv erhob sich und sammelte einige Akten zusammen. Dann sah er Marinell fest an. „Aber wir wollen dich hier auch nie wiedersehen, verstanden? Marinell, heute Nachmittag hattest du Glück. Diese Kerle hätten dir ernsthaft gefährlich werden können.“ Er nickte knapp und ließ sie dann alleine.
Die Deckenlichter summten und flackerten. Es war ein schrecklicher Ort und Lucy wollte ihn endlich wieder verlassen.
Gott, wie kannst du mich nur in eine solche Lage bringen? Ich kann sie doch nicht mitnehmen, nur um sie dann in ein paar Wochen wieder auf die Straße zu setzen.
„Marinell, du solltest wissen, dass Saving Grace ein akutes finanzielles Problem hat. Wir wissen nicht, wie lange wir noch –“
„Also, ich mach Ihnen keinen Stress. Sie haben mir gesagt, ich könnte bleiben. Wenn Sie keinen Platz mehr für mich haben, sagen Sie es einfach.“
Hinter der Angst konnte Lucy in diesen braunen Augen Stärke erkennen, eine Stärke, die sie selbst in diesem Alter nicht gehabt hatte. Morgen war ein neuer Tag. Dieses Mädchen brauchte ihre Hilfe jetzt sofort. „Es gibt einen Platz für dich, Marinell. Wir wollen dich bei uns haben.“
„Also gut. Dann komme ich wohl mit.“ Sie streckte Lucy ihr leeres Getränk entgegen. „Aber können wir irgendwo anhalten und noch mehr hiervon kaufen?“
Dreißig Minuten später stand Marinell in ihrem neuen Zimmer. „Das gehört alles mir?“
„Ja.“ Vorerst. Im September müsste Lucy wahrscheinlich dreizehn Mädchen in ihrer Wohnung unterbringen.
In die Stille des Raumes hinein drang das unmissverständliche Knurren eines hungrigen Magens.
„Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?“ Lucy warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war kurz nach drei.
„Gestern Abend, denke ich.“ Marinell setzte sich auf das Bett und grinste. „Ich hatte einen dieser neunundsechzig Cent Burritos von Taco Hut. War nicht lecker, aber mehr konnte ich mir nicht leisten.“
„Dann lass uns in der Küche nachsehen, was wir finden. Wir könnten ein Sandwich machen. Vielleicht haben wir auch noch ein paar Kekse.“ Lucy ging auf die Tür zu.
„Miss Lucy?“
„Ja?“
„Wenn es in Ordnung wäre, würde ich mich einfach gerne ins Bett legen.“
„Haben dich diese Männer verletzt?“
Sie schüttelte den Kopf, sodass ihre Ohrringe mitschwangen. „Nein. Ich habe nur noch nie etwas anderes als eine alte Couch zum Schlafen gehabt. Ist es in Ordnung für Sie, wenn ich hier ein bisschen abhänge?“
„Nimm dir Zeit.“ Obwohl sie sich alles andere als zuversichtlich fühlte, brachte sie ein Lächeln zustande und ließ Marinell alleine.
* * *
Lucy presste sich das Telefon ans Ohr, während sie mit einer Hand versuchte, den Papierstau im Drucker zu beseitigen. „Ich glaube, ich habe mich verhört. Sagen Sie das nochmal.“ Das dumme Papier wollte sich nicht lösen.
„Sie haben vierundzwanzig Stunden, um das Haus zu räumen, Lucy. Es tut mir leid.“
„Mr Greene, wir hatten eine Abmachung.“ Gleich würde sie in Panik ausbrechen. „Sie sagten, ich könnte meine Option, das Gebäude nicht nur zu mieten, sondern es zu kaufen, jederzeit einlösen.“
„Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie genug Geld haben, um das Haus zu kaufen?“
Sie dachte an den Scheck in ihrer Tasche.
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