Scheintot
er traute mir nicht. Dann erschoss er diesen Polizisten in New Haven, und danach verloren wir ihn ganz aus den Augen. Das war, wie ich vermute, der Moment, als sie sich trennten.«
»Woher wissen Sie, dass sie zusammen unterwegs waren?«
»In der Nacht der Morde von Ashburn«, sagte Glasser, »hat Joseph Roke an einer Tankstelle nicht weit von dem Haus getankt. Er bezahlte mit seiner Kreditkarte, und dann fragte er den Kassierer, ob die Werkstatt einen Abschleppwagen hätte; er habe nämlich zwei Frauen auf der Straße aufgelesen, die eine Autopanne hätten.«
Es war eine Weile still. Gabriel und Jane sahen einander an.
»
Zwei
Frauen?«, fragte Jane.
Glasser nickte. »Die Überwachungskamera der Tankstelle hat Rokes Wagen gefilmt, als er an der Zapfsäule stand. Durch die Windschutzscheibe kann man auf dem Beifahrersitz eine Frau erkennen: Olena. Das war der Abend, an dem ihre Lebenslinien sich schnitten, der Abend, an dem Joseph Roke in die Sache verwickelt wurde. Von dem Augenblick an, als er diese Frauen in seinen Wagen einsteigen ließ, als er sich mit ihnen einließ, stand er auf der Abschussliste. Wenige Stunden nach diesem Tankstopp ging sein Haus in Flammen auf. Da muss ihm klar geworden sein, was für einen gewaltigen Haufen Ärger er sich da eingehandelt hatte.«
»Und die zweite Frau? Sie sagten, er hätte zwei Frauen auf der Straße aufgelesen.«
»Wir wissen nichts über sie. Nur, dass sie noch bis New Haven mit den beiden unterwegs war. Das war vor zwei Monaten.«
»Sie sprechen von dem Video aus dem Streifenwagen. Von dem Mord an diesem Polizisten.«
»Auf dem Video ist zu sehen, wie auf dem Rücksitz ganz kurz ein Kopf auftaucht. Nur der Hinterkopf – ihr Gesicht ist nie zu sehen. Und das heißt, dass wir praktisch keinerlei Informationen über sie haben. Nur ein paar rote Haare auf dem Sitzpolster. Vielleicht ist sie ja auch schon tot.«
»Aber wenn sie noch lebt«, sagte Barsanti, »dann ist sie unsere letzte Zeugin. Die einzige überlebende Augenzeugin der Vorfälle in Ashburn.«
»Ich kann Ihnen sagen, wie sie heißt«, flüsterte Jane.
Glasser sah sie stirnrunzelnd an. »Was?«
»Das ist der Traum.« Jane sah Gabriel an. »Das ist es, was Olena mir sagen will.«
»Sie hat immer wieder diesen Albtraum«, erklärte Gabriel. »Von der Befreiungsaktion.«
»Und was passiert in dem Traum?«, fragte Glasser, die dunklen Augen auf Jane geheftet.
Jane schluckte. »Ich höre Männer an die Tür hämmern, in das Zimmer eindringen. Und dann beugt sie sich über mich. Um mir etwas zu sagen.«
»Sie sprechen von Olena?«
»Ja. Sie sagt: ›Mila weiß Bescheid.‹ Das ist alles. ›Mila weiß Bescheid.‹«
Glasser starrte sie an. »Mila
weiß
Bescheid? Präsens?«
Sie sah Barsanti an. »Unsere Zeugin ist noch am Leben.«
29
»Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, Dr. Isles«, sagte Peter Lukas. »Am Telefon habe ich Sie ja nicht erreichen können.« Er begrüßte sie mit einem kühlen, geschäftsmäßigen Händedruck – durchaus verständlich, denn schließlich hatte sie auf seine Anrufe nicht reagiert. Er führte sie durch die Empfangshalle der
Boston Tribune
zur Anmeldung, wo der Pförtner Maura einen orangefarbenen Besucherausweis überreichte.
»Den müssen Sie wieder abgeben, bevor Sie gehen, Ma’am«, sagte der Pförtner.
»Und das will ich Ihnen auch geraten haben«, fügte Lukas hinzu, »sonst wird der gute Mann hier Sie hetzen wie ein Bluthund.«
»Danke für die Warnung«, erwiderte Maura, während sie den Ausweis an ihre Bluse heftete. »Sie haben ja hier schärfere Sicherheitsmaßnahmen als das Pentagon.«
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wie vielen Leuten eine Zeitung Tag für Tag auf den Schlips tritt?« Er drückte den Knopf, um den Aufzug zu holen, und bemerkte ihre todernste Miene. »O je, ich fürchte, Sie gehören auch dazu. Ist das der Grund, weshalb Sie nicht zurückgerufen haben?«
»Es gibt noch mehr Leute, die von Ihrem Artikel über mich nicht gerade begeistert waren.«
»Nicht begeistert von Ihnen oder von mir?«
»Von mir.«
»Habe ich Sie falsch zitiert? Habe ich Ihre Aussagen entstellt?«
Sie zögerte. Und gestand dann: »Nein.«
»Und warum sind Sie dann böse auf mich? Denn dass Sie es sind, ist nicht zu übersehen.«
Sie sah ihn an. »Ich bin Ihnen gegenüber zu offen gewesen. Das war ein Fehler.«
»Nun, mir hat es Spaß gemacht, eine Frau zu interviewen, die kein Blatt vor den Mund nimmt«, sagte er. »Das war mal eine erfreuliche
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