Scheintot
ins Zimmer trat. Es war die Aufseherin, die an den Küchenstuhl gefesselt gestorben war.
Ich weiß, was mit dir passieren wird. Was sie mit deinen Händen machen werden. Ich weiß, dass du schreiend sterben wirst.
Die Frau ging auf das Bett zu und schüttelte das Mädchen. Blaffte sie im Kommandoton an. Das Mädchen reagierte nicht. Die Frau trat einen Schritt zurück und schlug die Hand vor den Mund. Dann wandte sie sich unvermittelt um und starrte direkt in die Kamera.
Sie weiß, dass sie da ist. Sie weiß, dass sie in diesem Moment aufnimmt.
Sofort ging sie darauf zu, und man hörte, wie eine Schranktür geöffnet wurde. Dann wurde der Bildschirm schwarz.
Mila schaltete den Videorekorder aus.
Jane brachte kein Wort heraus. Sie sank auf die Couch und saß in benommenem Schweigen da. Auch Regina war still, als sei ihr bewusst, dass dies nicht der passende Augenblick war, sich durch Quengeln bemerkbar zu machen. Dass ihre Mutter im Moment zu erschüttert war, als dass sie sich um sie hätte kümmern können. Gabriel, dachte Jane. Ich brauche dich hier. Ihr Blick ging zum Telefon, und dabei sah sie, dass er sein Handy auf dem Tisch hatte liegen lassen. Sie konnte ihn im Wagen nicht erreichen.
»Er ist ein wichtiger Mann«, sagte Mila.
Jane fuhr herum und sah sie an. »Was?«
»Joe sagt, der Mann muss einen wichtigen Posten in der Regierung haben.« Mila deutete auf den Fernseher.
»Joe hat dieses Video gesehen?«
Mila nickte. »Er gab mir eine Kopie, bevor er ging. Damit wir alle eine hätten für den Fall, dass …« Sie hielt inne. »Für den Fall, dass wir uns nie wiedersehen würden«, schloss sie leise.
»Wo kommt das her? Wie sind Sie an dieses Video gekommen?«
»Die Mutter hatte es in ihrem Zimmer. Wir wussten nichts davon. Wir wollten nur das Geld.«
Das ist das Motiv für das Massaker, dachte Jane; das ist der Grund, weshalb all die Frauen in dem Haus sterben mussten. Und dieses Video ist der Beweis.
»Wer ist er?«, fragte Mila.
Jane starrte den leeren Fernsehbildschirm an. »Ich weiß es nicht. Aber ich kenne jemanden, der es wissen könnte.«
Sie ging zum Telefon.
Mila sah sie entsetzt an. »Keine Polizei!«
»Ich rufe nicht die Polizei an. Ich werde einen Freund von mir bitten herzukommen. Einen Reporter. Er kennt Leute in Washington. Er hat dort gelebt. Er wird wissen, wer dieser Mann ist.« Sie blätterte im Telefonbuch, bis sie den Eintrag für Peter Lukas gefunden hatte. Er wohnte in Milton, einem südlichen Vorort von Boston. Während sie wählte, konnte sie spüren, wie Mila sie beobachtete. Offenbar war sie immer noch nicht so weit, dass sie Jane vertrauen konnte. Wenn ich
eine
falsche Bewegung mache, dachte Jane, wird dieses Mädchen davonlaufen. Ich muss aufpassen, dass ich sie nicht verschrecke.
»Hallo?«, meldete sich Peter Lukas.
»Können Sie sofort zu mir kommen?«
»Detective Rizzoli? Was ist passiert?«
»Ich kann am Telefon nicht darüber reden.«
»Das klingt ernst.«
»Das könnte Ihnen den Pulitzerpreis einbringen, Lukas.«
Sie brach ab.
Jemand klingelte an der Haustür.
Mila warf Jane einen Blick voll schierer Panik zu. Sie schnappte sich ihre Tasche und rannte zum Fenster.
»Warten Sie. Mila, nicht …«
»Rizzoli?«, sagte Lukas. »Was ist da los bei Ihnen?«
»Ich rufe Sie gleich zurück«, sagte Jane und legte auf.
Mila lief inzwischen von einem Fenster zum anderen und suchte verzweifelt die Feuertreppe.
»Es ist alles okay!«, sagte Jane. »Beruhigen Sie sich.«
»Sie wissen, dass ich hier bin!«
»Wir wissen ja gar nicht, wer an der Tür ist. Sehen wir doch erst mal nach.« Sie drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Ja?«
»Detective Rizzoli, John Barsanti hier. Kann ich raufkommen?«
Milas Reaktion ließ keine Sekunde auf sich warten. Sie sprintete gleich los in Richtung Schlafzimmer, auf der Suche nach einem Fluchtweg.
»Warten Sie!«, rief Jane und lief ihr durch den Flur nach.
»Sie können diesem Mann vertrauen!«
Das Mädchen schob bereits das Schlafzimmerfenster hoch.
»Sie dürfen jetzt nicht weglaufen!«
Wieder hörten sie die Klingel. Sofort kletterte Mila durchs Fenster auf die Feuerleiter. Wenn sie jetzt wegläuft, werde ich sie nie wiedersehen, dachte Jane.
Dieses Mädchen hat bis jetzt überlebt, und das nur dank ihres untrüglichen Instinkts. Vielleicht sollte ich auf sie hören.
Sie packte Mila am Handgelenk. »Ich komme mit, okay? Wir gehen zusammen. Laufen Sie nur nicht ohne mich weg!«
»Schnell!«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher