Scheintot
Namensliste.
»Steht sie drauf?«, fragte Gabriel.
Nach einer Pause nickte Stillman. »Leider ja.« Er gab Hayder die Liste. »Sechs Namen. Das hat die Geiselnehmerin auch im Radio gesagt – dass sie sechs Personen in ihrer Gewalt hätte.« Was er wegließ, war die anschließende Bemerkung der Frau:
Und ich habe genug Patronen für sie alle.
»Wer hat diese Liste zu Gesicht bekommen?«, fragte Gabriel.
»Der Leiter der Klinikverwaltung«, antwortete Hayder.
»Und alle, die ihm bei der Zusammenstellung der Namen geholfen haben.«
»Streichen Sie den Namen meiner Frau, bevor Sie die Liste weiterleiten.«
»Es sind doch nur die Namen. Kein Mensch weiß …«
»Jeder Reporter kann innerhalb von zehn Sekunden herausfinden, dass Jane Polizistin ist.«
»Er hat Recht«, pflichtete Maura bei. »Sämtliche Polizeireporter in Boston kennen ihren Namen.«
»Streichen Sie ihren Namen von der Liste, Mark«, sagte Stillman. »Bevor irgendjemand sonst sie zu sehen kriegt.«
»Was ist mit unserem Zugriffstrupp? Wenn die Jungs den Laden stürmen, müssen sie schließlich wissen, wer da drin ist und wie viele Personen sie befreien müssen.«
»Wenn Sie Ihren Job ordentlich machen«, meinte Gabriel, »dann wird Ihr Zugriffstrupp überhaupt nicht gebraucht. Sie müssen die Frau eben dazu überreden aufzugeben und herauszukommen.«
»Tja, mit dem Reden sind wir bis jetzt noch nicht allzu weit gekommen, was?« Hayder sah Stillman an. »Ihre Freundin da drin will uns ja nicht mal Hallo sagen.«
»Es sind erst drei Stunden«, wandte Stillman ein. »Wir müssen ihr Zeit lassen.«
»Und was ist nach sechs Stunden? Oder zwölf?« Hayder wandte sich zu Gabriel um. »Ihre Frau soll doch jeden Moment ihr Kind kriegen.«
»Denken Sie, ich hätte das nicht berücksichtigt?«, gab Gabriel aufgebracht zurück. »Da drin ist nicht nur meine Frau, sondern auch mein Kind. Dr. Tam ist vielleicht bei ihr, aber wenn bei der Geburt irgendetwas schief geht, dann haben sie dort keinerlei Geräte zur Verfügung, keinen OP. Und deshalb will ich, dass diese Sache so schnell wie möglich beendet wird. Aber nicht, wenn die Gefahr besteht, dass Ihre Leute da drin ein Blutbad anrichten.«
»Sie ist es doch, die das Ganze ausgelöst hat. Und sie bestimmt auch, was als Nächstes passiert.«
»Dann zwingen Sie sie nicht zum Handeln. Sie haben hier einen Unterhändler, Captain Hayder. Also setzen Sie ihn auch ein. Und unterstehen Sie sich, Ihr SEK-Team auf meine Frau loszulassen.« Gabriel machte kehrt und verließ den Container.
Draußen auf dem Gehsteig holte Maura ihn ein. Sie musste zweimal seinen Namen rufen, bis er endlich stehen blieb und sich zu ihr umdrehte.
»Wenn sie es verbocken«, sagte er, »wenn sie das Gebäude zu früh stürmen …«
»Du hast gehört, was Stillman gesagt hat. Er will die Sache bedächtig angehen, genau wie du.«
Gabriel starrte zu einer Gruppe von drei Cops in SEK-Uniformen hinüber, die in der Nähe des Klinikeingangs auf der Lauer lagen. »Schau sie dir doch an. Die stehen unter Strom und hoffen nur, dass es endlich losgeht. Ich weiß, wie das ist; ich habe es ja selbst mitgemacht. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Irgendwann hat man es satt, nur tatenlos herumzustehen und die endlosen Verhandlungen abzuwarten. Sie wollen endlich loslegen und in die Tat umsetzen, was man ihnen beigebracht hat. Sie können es kaum erwarten, endlich loszuballern.«
»Stillman glaubt, dass er die Frau zur Aufgabe überreden kann.«
Er sah sie an. »Du warst mit dieser Frau zusammen. Wird sie ihm zuhören?«
»Ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, wir wissen so gut wie nichts über sie.«
»Ich habe gehört, dass sie aus dem Wasser gezogen wurde. Dass sie von einem Feuerwehrteam ins Leichenschauhaus gebracht wurde.«
Maura nickte. »Sie glaubten, sie sei ertrunken. Man hat sie aus der Hingham Bay gefischt.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Ein paar Leute eines Yachtclubs in Weymouth. Ein Team der Bostoner Mordkommission arbeitet bereits an dem Fall.«
»Aber sie wissen nichts von Jane.«
»Noch nicht.« Das wird die Sache für sie in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, dachte Maura. Eine der Ihren ist unter den Geiseln. Es ist immer eine andere Geschichte, wenn das Leben eines Cops auf dem Spiel steht.
»Wie heißt der Yachtclub?«, fragte Gabriel.
9
Mila
Die Fenster sind vergittert. Heute Morgen sind die Scheiben mit Eisblumen überzogen wie mit einem Spinnennetz aus Kristall. Draußen sind Bäume, so
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