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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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viele, dass ich nicht sehen kann, was dahinter liegt. Ich kenne nur dieses Zimmer und dieses Haus, das unsere ganze Welt ist, seit dem Abend, als der Bus uns hergebracht hat. Vor unserem Fenster funkelt der Raureif im Sonnenschein. Es ist wunderschön dort in den Wäldern, und ich male mir aus, wie ich zwischen den Bäumen spazieren gehe. Das knisternde Laub, das Eis, das an den Zweigen glitzert. Ein kaltes, reines Paradies.
    Aber dieses Haus hier ist die Hölle.
    Ich sehe sie in den Gesichtern der anderen Mädchen gespiegelt, die jetzt in ihren schmutzigen Feldbetten liegen und schlafen. Ich höre ihre Qualen in ihrem rastlosen Stöhnen, ihrem Wimmern. Zu sechst teilen wir uns dieses Zimmer. Olena ist schon am längsten hier, und ihre Wange ist von einem hässlichen blauen Fleck entstellt, ein Souvenir von einem Freier, der es auf die brutale Tour mag. Aber manchmal schlägt Olena auch zurück. Sie ist die Einzige von uns, die das wagt, die Einzige, die sie nicht ganz unterkriegen können, auch nicht mit ihren Beruhigungsmitteln und Spritzen. Auch nicht mit ihren Schlägen.
    Ich höre ein Auto die Auffahrt heraufkommen, und mit klopfendem Herzen warte ich auf das Geräusch der Türklingel. Es ist, als hätten wir alle einen Stromschlag bekommen. Die Mädchen schrecken aus dem Schlaf hoch, als sie die Klingel hören; sie setzen sich auf, die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen. Wir wissen, was als Nächstes passieren wird. Wir hören den Schlüssel im Schloss, und unsere Zimmertür wird aufgestoßen.
    Die Mutter steht im Türrahmen wie eine fette Köchin, die erbarmungslos ein Lamm für die Schlachtbank auswählt. Wie immer geht sie vollkommen kaltblütig zur Sache; ihr pockennarbiges Gesicht verrät keinerlei Gefühlsregung, als sie ihren Blick über ihre Herde wandern lässt, über die Mädchen, die ängstlich auf ihren Feldbetten kauern. Dann richtet sie ihn plötzlich auf das Fenster, wo ich stehe.
    »Du«, sagt sie auf Russisch. »Sie wollen eine Neue.«
    Ich sehe zu den anderen Mädchen hin. In ihren Augen lese ich nichts als Erleichterung darüber, dass sie diesmal nicht als Opferlamm auserkoren wurden.
    »Worauf wartest du noch?«, fragt die Mutter.
    Meine Hände sind plötzlich eiskalt; schon spüre ich die Übelkeit, die in meinen Eingeweiden wühlt. »Ich – ich fühle mich nicht gut. Und ich bin da unten immer noch wund…«
    »Deine erste Woche, und du bist schon wund?« Die Mutter schnaubt verächtlich. »Du gewöhnst dich besser dran.«
    Die anderen Mädchen starren alle auf den Boden oder auf ihre Hände; sie weichen meinem Blick aus. Nur Olena sieht mich an, und ich lese Mitleid in ihren Augen.
    Unterwürfig folge ich der Mutter auf den Flur. Ich habe schon gelernt, dass man sich nicht ungestraft verweigern darf, und ich habe immer noch die blauen Flecken vom letzten Mal, als ich protestiert habe. Die Mutter zeigt auf die Tür des Zimmers am Ende des Flurs.
    »Auf dem Bett liegt ein Kleid. Das ziehst du an.«
    Ich gehe in das Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Das Fenster geht auf die Auffahrt, in der ein blauer Wagen parkt. Auch hier ist das Fenster mit Gitterstäben versperrt. Mein Blick fällt auf das große Messingbett, und was ich sehe, ist nicht etwa ein Möbelstück, sondern eine Folterbank, die auf mich wartet. Ich greife nach dem Kleid. Es ist weiß wie ein Puppenkleidchen, mit Rüschen am Saum. Mir ist sofort klar, was das bedeutet, und aus Übelkeit wird Angst, mein Magen krampft sich zusammen. Wenn sie von dir verlangen, dass du ein Kind spielst, hat Olena mich gewarnt, dann wollen sie, dass du Angst hast. Sie wollen dich schreien hören. Sie haben ihren Spaß daran, wenn du blutest.
    Ich will das Kleid nicht anziehen, aber ich wage auch nicht, es nicht zu tun. Als ich dann die Schritte höre, die sich dem Zimmer nähern, habe ich das Kleid schon an und wappne mich für das, was nun kommt. Die Tür geht auf, und zwei Männer treten ein. Sie mustern mich eine Weile, und ich hoffe, dass sie enttäuscht sind, dass sie mich zu dünn oder zu hässlich finden, dass sie sich einfach umdrehen und wieder gehen. Aber dann machen sie die Tür zu und kommen auf mich zu wie Wölfe, die sich an ihre Beute anschleichen.
    Du musst lernen zu schweben.
Das hat Olena mich gelehrt: über den Schmerzen zu schweben. Das versuche ich, als die Männer mir das Puppenkleid vom Leib reißen, als ihre groben Hände meine Handgelenke packen, als sie mich zwingen, mich ihnen hinzugeben. Meine Schmerzen sind

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