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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sie fürchtete, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jetzt aber erkannte sie zu ihrem Entsetzen, dass die Frau sie fixierte – sie und nur sie –, und sie kam sich vor wie eine verirrte Gazelle, von der Herde getrennt und als Opfer auserkoren. Und die Frau hatte tatsächlich etwas von einer Raubkatze an sich, mit ihren langen, geschmeidigen Gliedern, dem schwarzen Haar, das glänzte wie das Fell eines Panthers. Ihre blauen Augen waren durchdringend wie Suchscheinwerfer, und Jane war in ihrem Lichtstrahl gefangen.
    »So machen sie das«, sagte die Frau und betrachtete Janes Armband. »Sie hängen einem Etiketten an. Wie im KZ.« Sie zeigte ihr eigenes Armband, auf dem DOE, JANE stand. Was für ein origineller Name, dachte Jane, und fast hätte sie gelacht. Ich werde von Jane Doe als Geisel festgehalten. Ein Zweikampf, Jane gegen Jane. Die echte gegen die falsche. Hatten die im Krankenhaus nicht gewusst, wer diese Frau war, als sie sie aufgenommen hatten? Nach den wenigen Worten zu urteilen, die sie bis jetzt gesprochen hatte, war sie offensichtlich keine Amerikanerin. Osteuropäerin. Vielleicht Russin.
    Die Frau riss ihr eigenes Armband ab und warf es weg. Dann packte sie Janes Handgelenk, zog einmal kräftig an ihrem Armband und zerriss es.
    »So. Schluss mit den Etiketten«, sagte die Frau. Sie warf einen Blick auf Janes Armband. »Rizzoli. Das ist italienisch.«
    »Ja.« Jane hielt den Blick weiter starr auf das Gesicht der Frau gerichtet. Sie wagte es nicht, nach unten zu schauen, weil sie die Aufmerksamkeit der Frau nicht auf den Schnellhefter lenken wollte, der unter ihrem nackten Fuß lag. Die Frau fasste den festen Blickkontakt als Zeichen einer Verbindung zwischen ihnen auf. Bis zu diesem Moment hatte die wahnsinnige Lady mit ihren Geiseln kaum ein Wort gesprochen. Aber jetzt redete sie. Das ist gut, dachte Jane. Eine Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Du musst versuchen, Verbindung mit ihr aufzunehmen, eine persönliche Beziehung herzustellen. Freunde dich mit ihr an. Sie würde doch nie eine Freundin erschießen, oder?
    Die Frau betrachtete jetzt Janes hochschwangeren Bauch.
    »Ich bekomme mein erstes Kind«, sagte Jane.
    Die Frau sah auf die Uhr an der Wand. Sie wartete auf etwas. Zählte jede Minute, die verstrich.
    Jane beschloss, den Gesprächsfaden weiterzuspinnen.
    »Wie – wie heißen Sie?«, fragte sie auf gut Glück.
    »Wieso?«
    »Ich wollte es einfach nur wissen.«
Damit ich dich nicht immer die wahnsinnige Lady nennen muss.
    »Das spielt keine Rolle. Ich bin schon längst tot.« Die Frau sah sie an. »Genau wie Sie.«
    Jane starrte in ihre stechenden Augen, und einen erschreckenden Moment lang dachte sie: Was, wenn es wahr ist? Was, wenn wir tatsächlich schon tot sind und dies hier nur eine Version der Hölle ist?
    »Bitte«, murmelte die Empfangsschwester. »Bitte, lassen Sie uns gehen. Sie brauchen uns doch nicht. Lassen Sie uns einfach die Tür aufmachen und gehen.«
    Die Frau begann wieder auf und ab zu tigern, wobei ihre bloßen Füße in regelmäßigen Abständen auf die am Boden liegende Patientenakte traten. »Glauben Sie wirklich, dass die Sie am Leben lassen? Nachdem Sie mit mir zusammen waren? Jeder, der mit mir zusammen ist, muss sterben.«
    »Wovon redet sie da?«, flüsterte Dr. Tam.
    Sie ist paranoid, dachte Jane. Leidet an Verfolgungswahn.
    Die Frau blieb abrupt stehen und starrte den braunen Schnellhefter zu ihren Füßen an.
    Nicht aufmachen. Bitte, nicht!
    Die Frau hob die Patientenakte auf und warf einen flüchtigen Blick auf den Namen auf dem Deckel.
    Lenk sie ab, aber schnell!
    »Verzeihung«, sagte Jane. »Ich muss – ich muss wirklich ganz dringend auf die Toilette. Wissen Sie – wenn man schwanger ist …« Sie deutete auf die Toiletten des Wartebereichs. »Bitte, darf ich gehen?«
    Die Frau warf die Akte auf den Beistelltisch, wo sie knapp außerhalb von Janes Reichweite liegen blieb. »Sie schließen die Tür nicht ab.«
    »Nein, das verspreche ich Ihnen.«
    »Gehen Sie.«
    Dr. Tam berührte Janes Hand. »Brauchen Sie Hilfe? Soll ich vielleicht mitgehen?«
    »Nein, ich komme schon zurecht«, erwiderte Jane und erhob sich mit wackligen Knien. Wie gerne hätte sie die Patientenakte eingesteckt, als sie an dem Tischchen vorbeikam, doch die wahnsinnige Lady beobachtete sie die ganze Zeit wie ein Luchs. Jane ging zur Toilette, schaltete das Licht ein und machte die Tür hinter sich zu. Erleichterung überkam sie – endlich war sie allein, musste nicht mehr

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