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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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den …«
    Yoshima hielt inne. »Also, an meinen würde ich nie im Leben eine Nadel ranlassen.«
    Sie streiften den anderen Ärmel ab und drehten den nunmehr nackten Leichnam wieder auf den Rücken. Er war nicht alt geworden, und doch war schon eine ganze Geschichte von Verletzungen in seine Haut eingeschrieben: die Narben, die Tätowierung – und dann das letzte, tödliche Trauma, die Schusswunde in der linken Wange.
    Abe schob das Vergrößerungsglas über die Wunde. »Ich erkenne hier eine versengte Zone.« Er warf Maura einen Blick zu. »Standen die beiden einander unmittelbar gegenüber?«
    »Er hatte sich gerade über das Bett gebeugt und versuchte, sie zu überwältigen, als sie den Schuss abfeuerte.«
    »Können wir mal die Schädelaufnahmen sehen?«
    Yoshima zog die Röntgenbilder aus einem Umschlag und heftete sie an den Leuchtkasten. Es waren zwei Aufnahmen, eine anteroposteriore und eine laterale. Abe manövrierte seinen massigen Körper um den Tisch herum, um sich die geisterhaften Schatten der Schädel- und Gesichtsknochen aus der Nähe anzusehen. Einen Moment lang schwieg er; dann sah er Maura an. »Wie viele Schüsse, sagst du, hat sie abgefeuert?«, fragte er.
    »Einen.«
    »Willst du dir das hier vielleicht mal anschauen?«
    Maura trat vor den Leuchtkasten. »Das verstehe ich nicht«, murmelte sie. »Ich war doch dabei, als es passierte.«
    »Hier sind deutlich zwei Kugeln zu sehen.«
    »Ich weiß, dass aus der Pistole nur ein Schuss gefallen ist.«
    Abe ging zum Tisch zurück und starrte auf den Kopf des Toten hinunter. Er musterte das Einschussloch mit dem ovalen Hof schwarz versengter Haut. »Es gibt nur eine Eintrittswunde. Wenn die Waffe zweimal in rascher Folge abgefeuert wurde, könnte dies erklären, dass eine zweite Wunde fehlt.«
    »Aber das ist es nicht, was ich gehört habe, Abe.«
    »In dem ganzen Durcheinander könnte dir der zweite Schuss entgangen sein.«
    Ihr Blick haftete immer noch an den Röntgenaufnahmen. Gabriel hatte Maura noch nie so verunsichert erlebt. Es war ihr deutlich anzusehen, wie sie sich mühte, ihre Erinnerung mit dem unwiderlegbaren Beweis in Einklang zu bringen, der ihr vom Leuchtkasten entgegenstrahlte.
    »Schildere uns doch, was sich in dem Zimmer abgespielt hat«, forderte Gabriel sie auf.
    »Wir haben zu dritt versucht, sie zu fixieren«, erwiderte sie. »Ich habe nicht mitbekommen, wie sie sich die Waffe des Wachmanns schnappte. Ich war ganz auf den Riemen konzentriert, den ich ihr gerade ums Handgelenk schnallen wollte. Ich hatte ihn eben zu fassen bekommen, als die Pistole losging.«
    »Und der andere Zeuge?«
    »Das war ein Arzt.«
    »Woran erinnert er sich? An einen Schuss oder zwei?«
    Sie drehte sich um und fing Gabriels Blick auf. »Die Polizei hat ihn nicht vernehmen können.«
    »Warum nicht?«
    »Weil niemand weiß, wer er ist.« Zum ersten Mal hörte er den besorgten Unterton in ihrer Stimme. »Ich bin anscheinend die Einzige, die sich an ihn erinnert.«
    Yoshima wandte sich zum Telefon um. »Ich rufe in der Ballistik an«, kündigte er an. »Die werden doch wissen, wie viele Patronenhülsen am Tatort gefunden wurden.«
    »Also, fangen wir mal an«, sagte Abe und nahm sich ein Skalpell vom Instrumententablett. Sie wussten so wenig über diesen Mann. Sie kannten weder seinen Namen noch seine Vorgeschichte, und sie wussten nicht, was ihn an den Ort geführt hatte, an dem er den Tod gefunden hatte. Aber nach der Obduktion würden sie ihn in gewisser Hinsicht besser kennen, als je ein Mensch ihn gekannt hatte.
    Mit dem ersten Schnitt begann Abe, seine Bekanntschaft zu machen.
    Seine Klinge durchtrennte Haut und Muskeln und schabte an den Rippen entlang, als er den Y-Schnitt führte. Die Linien zogen sich von beiden Schultern schräg nach unten, um sich am Schwertfortsatz des Brustbeins zu treffen. Daran schloss sich ein durchgehender vertikaler Schnitt durch die Bauchdecke an, nur mit einer kleinen »Umleitung« um den Nabel herum. Im Gegensatz zu Mauras geschickter und eleganter Sektionstechnik wirkte Abes Vorgehen geradezu brachial, wenngleich nicht minder zügig und effizient. Mit seinen riesigen Pranken und den Wurstfingern, die nun wirklich nichts Anmutiges an sich hatten, erinnerte er an einen Metzger, als er das Fleisch vom Knochen löste und dann zu der großen Gartenschere griff. Mit jedem Schnitt durchtrennte er eine Rippe. Ein Mann konnte Jahre damit zubringen, seinen Körper zu stählen, wie dieser hier es gewiss getan hatte. Aber was

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