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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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nutzte ihm jetzt all die schweißtreibende Schinderei mit Hanteln und Gewichten? Dem Skalpell und der Schere des Gerichtsmediziners musste sich am Ende jeder Körper geschlagen geben, ob durchtrainiert oder nicht.
    Abe durchtrennte die letzte Rippe und hob das Dreieck mit dem Brustbein in der Mitte heraus. Ihres knöchernen Schutzschilds beraubt, lagen Herz und Lungen nun frei. Abes Arm verschwand fast ganz in der Brusthöhle, als er die Organe zu resezieren begann.
    »Dr. Bristol?«, sagte Yoshima, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. »Ich habe gerade mit der Ballistik gesprochen. Sie sagen, die Spurensicherung hätte nur eine Hülse abgegeben.«
    Das Blut troff von Abes Händen, als er sich aufrichtete.
    »Sie haben die zweite nicht gefunden?«
    »Mehr ist im Labor nicht abgegeben worden. Eine einzige Hülse.«
    »Und das ist es auch, was ich gehört habe, Abe«, sagte Maura. »Einen Schuss.«
    Gabriel ging hinüber zum Leuchtkasten. Mit wachsender Besorgnis betrachtete er die beiden Aufnahmen. Ein Schuss, zwei Kugeln, dachte er. Das wirft vielleicht ein völlig neues Licht auf die Sache. Er wandte sich zu Abe um.
    »Ich muss die beiden Geschosse sehen.«
    »Rechnen Sie damit, dass Sie etwas Bestimmtes finden werden?«
    »Ich glaube, ich weiß, wieso es zwei sind.«
    Abe nickte. »Lassen Sie mich zuerst hier weitermachen.«
    Flink durchtrennte er mit dem Skalpell Blutgefäße und Sehnen, entnahm das Herz und die Lungen, die später gewogen und untersucht würden, und wandte sich dann der Bauchhöhle zu. Alles sah normal aus. Dies waren die gesunden Organe eines Mannes, dessen Körper ihm noch jahrzehntelang gute Dienste geleistet hätte.
    Zuletzt nahm Abe sich den Kopf vor.
    Ohne mit der Wimper zu zucken, sah Gabriel zu, wie Abe die Kopfschwarte auftrennte und sie nach vorn zog, so dass das Gesicht in sich zusammenfiel und der Schädel freigelegt wurde.
    Yoshima schaltete die Säge ein.
    Auch jetzt, während die Säge kreischte und der Knochenstaub flog, wandte Gabriel den Blick nicht ab – im Gegenteil, er trat sogar näher, als könne er es kaum erwarten, einen Blick in das Schädelinnere zu werfen. Yoshima hebelte das Schädeldach ab, und Blut tropfte heraus. Abe führte das Skalpell in die Öffnung, um das Gehirn herauszulösen. Als er es aus der Schädelhöhle zog, stand Gabriel direkt neben ihm und hielt eine Schüssel darunter, um das erste Geschoss aufzufangen, das herausfiel.
    Er betrachtete es kurz durch das Vergrößerungsglas, dann sagte er: »Ich muss die andere auch sehen.«
    »Was denken Sie, Agent Dean?«
    »Finden Sie erst mal das zweite Geschoss.« Der schroffe Ton seiner Aufforderung überraschte alle, und er sah, wie Abe und Maura betroffene Blicke tauschten. Aber seine Geduld war erschöpft; er musste es einfach wissen.
    Abe legte das herausgetrennte Gehirn auf die Schneidunterlage. Nachdem er noch einen Blick auf die Röntgenaufnahmen geworfen hatte, um das Geschoss zu lokalisieren, fand er es gleich mit dem ersten Schnitt, versteckt in einer Blutansammlung im Gewebe.
    »Wonach suchen Sie?«, fragte Abe, während Gabriel die beiden Projektile unter dem Vergrößerungsglas hin und her drehte.
    »Gleiches Kaliber. Beide um die achtzig Gramm …«
    »Das ist ja nicht weiter überraschend. Sie wurden schließlich aus ein und derselben Waffe abgefeuert.«
    »Aber sie sind nicht identisch.«
    »Was?«
    »Sehen Sie sich an, was passiert, wenn man das zweite Geschoss aufrecht hinstellt. Es ist ein minimaler Unterschied, aber man kann es trotzdem erkennen.«
    Abe beugte sich vor und spähte stirnrunzelnd durch die Linse. »Es steht ein wenig schief.«
    »Genau. Es ist abgeschrägt.«
    »Es könnte sich durch den Aufprall verformt haben.«
    »Nein, es wurde so hergestellt. Mit einer Schrägung von neun Grad, damit seine Flugbahn leicht von der des ersten abweicht. Zwei Geschosse, so konstruiert, dass sich eine kontrollierte Streuung ergibt.«
    »Es gab nur eine Hülse.«
    »Und nur eine Einschusswunde.«
    Maura stand vor dem Leuchtkasten und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Röntgenaufnahmen. Die zwei Geschosse schimmerten hell vor dem dunkleren Hintergrund des Schädels. »Ein Duplexgeschoss«, sagte sie.
    »Deswegen hast du nur einen Schuss gehört«, sagte Gabriel. »Weil es nur einen Schuss gab.«
    Maura fixierte einen Moment lang schweigend die Schädelaufnahmen. So eindrucksvoll sie sein mochten, die Röntgenbilder ließen nicht annähernd den Pfad der Verwüstung erkennen, den diese

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