Scheintot
sagte Gabriel. »Wenn du Jane anschaust, siehst du eine ehrliche, unerschrockene Frau. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der niemand sagte, was er wirklich dachte. Mom hasste Dad, Dad hasste Mom. Aber trotzdem war immer alles wunderbar, bis an ihr Lebensende. Ich war lange der Meinung, dass die meisten Menschen so durchs Leben gehen – indem sie sich und anderen etwas vorlügen. Aber Jane ist nicht so. Sie scheut sich nicht, genau das zu sagen, was sie denkt, ganz gleich, wie viel Ärger sie sich damit einhandelt.« Er hielt inne. Und fügte leise hinzu: »Das ist es, was mir Sorgen macht.«
»Dass sie etwas sagen könnte, was sie lieber nicht sagen sollte.«
»Wenn du Jane auf die Füße trittst, tritt sie gleich zurück. Ich hoffe, dass sie wenigstens dieses eine Mal stillhalten wird. Und einfach die verängstige schwangere Lady in der Ecke spielt. Das könnte ihre Rettung sein.«
Sein Handy klingelte. Er griff sofort danach, und die Nummer, die er auf dem Display las, ließ seinen Puls in Galopp verfallen. »Gabriel Dean«, meldete er sich.
»Wo sind Sie gerade?«, fragte Detective Thomas Moore.
»Ich sitze in Dr. Isles’ Büro.«
»Gut, wir treffen uns dort.«
»Warten Sie, Moore. Worum geht es?«
»Wir wissen, wer Joe ist. Er heißt mit vollem Namen Joseph Roke und ist neununddreißig Jahre alt. Sein letzter bekannter Wohnsitz ist Purcellville, Virginia.«
»Wie haben Sie ihn identifiziert?«
»Er hat seinen Wagen ungefähr zwei Blocks von der Klinik entfernt abgestellt. Wir haben eine Zeugin, die einen bewaffneten Mann aus dem Wagen aussteigen sah, und sie hat bestätigt, dass er der Mann auf dem Video ist. Das Lenkrad ist mit seinen Fingerabdrücken übersät.«
»Augenblick mal. Joseph Rokes Fingerabdrücke sind registriert?«
»Militärakten. Passen Sie auf, ich komme gleich zu Ihnen.«
»Was wissen Sie noch?«, fragte Gabriel. Er hatte den drängenden Ton in Moores Stimme vernommen und wusste, dass es da etwas gab, was der Detective ihm nicht verraten hatte. »Sagen Sie es mir einfach.«
»Es liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor.«
»Was wirft man ihm vor?«
»Es war … ein Mord. Er hat jemanden erschossen.«
»Wer war das Opfer?«
»Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen. Wir können uns darüber unterhalten, wenn ich dort bin.«
»Wer war das Opfer?«, wiederholte Gabriel.
Moore seufzte. »Ein Cop. Vor zwei Monaten hat Joseph Roke einen Polizisten erschossen.«
»Es begann als routinemäßige Verkehrskontrolle«, sagte Moore. »Der Vorfall wurde von der im Streifenwagen montierten Videokamera automatisch aufgezeichnet. Die Kollegen vom New Haven PD haben zwar nicht das ganze Video angehängt, aber hier ist das erste der Standbilder, die sie mir gemailt haben.« Moore drückte auf die Maustaste, und auf dem Monitor seines Laptops erschien ein Foto. Es zeigte den Rücken des Polizisten aus New Haven, aufgenommen, als er gerade zu dem Fahrzeug ging, das vor seinem Streifenwagen hielt. Man konnte das Kennzeichen des anderen Wagens sehen.
»Der Wagen ist in Virginia gemeldet«, sagte Moore. »Mit dem Bildverbesserungsprogramm kann man das Kennzeichen noch deutlicher hervorheben. Es ist derselbe Wagen, den wir heute Nachmittag nur ein paar Blocks von der Klinik entfernt in der Harrison Street gefunden haben, wo er im Parkverbot stand.« Er wandte sich zu Gabriel um. »Als Besitzer ist Joseph Roke eingetragen.«
»Sie sagten, er stamme aus Virginia.«
»Ja.«
»Und was hat er vor zwei Monaten in Connecticut gemacht?«
»Wir wissen es nicht. Genauso wenig, wie wir wissen, was ihn jetzt nach Boston geführt hat. Alles, was wir über ihn haben, ist ein ziemlich lückenhaftes biografisches Profil, das die Kollegen vom New Haven PD zusammengestellt haben.« Er deutete auf seinen Laptop. »Und das da. Ein Mord, der auf Video aufgezeichnet wurde. Aber das ist nicht das Einzige, was auf diesen Fotos zu sehen ist.«
Gabriel nahm Rokes Wagen genauer in Augenschein. Oder vielmehr das, was durch das Heckfenster zu erkennen war. »Es ist noch ein Beifahrer im Wagen«, stellte er fest.
»Da sitzt jemand neben Roke.«
Moore nickte. »In der Vergrößerung ist deutlich zu erkennen, dass die Person auf dem Beifahrersitz eine Frau mit langen dunklen Haaren ist.«
»Das ist sie«, sagte Maura, den Blick gebannt auf den Monitor gerichtet. »Das ist unsere Jane Doe.«
»Und das bedeutet, dass die beiden vor zwei Monaten zusammen in New Haven waren.«
»Zeigen Sie uns den Rest«, forderte
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