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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ab.
    »Was ist er?«
    Sie richtete sich auf. Sah an der Waffe vorbei und fixierte stattdessen die Augen des Mannes, der sie hielt. »Er ist beim FBI«, sagte sie.
    Joe starrte sie einen Moment lang an. Dann sah er seine Partnerin an. »Das ändert alles«, sagte er.

17
    Mila
     
    Wir haben ein neues Mädchen bekommen.
    Heute Morgen ist ein Kleinbus vor dem Haus vorgefahren, und die Männer haben sie in unser Zimmer hinaufgetragen. Den ganzen Tag liegt sie schon auf Olenas Bett und schläft, weil sie sie mit Medikamenten voll gepumpt haben. Wir stehen alle um sie herum und betrachten sie, blicken in ein Gesicht, so blass, dass es gar nicht wie lebendiges Fleisch wirkt, sondern wie durchscheinender Marmor. Sie schnauft ganz leise, und jedes Mal, wenn sie ausatmet, flattert eine Strähne ihrer blonden Haare im Luftzug. Ihre Hände sind klein – Puppenhände, denke ich, wenn ich die kleine Faust anschaue, mit dem Daumen, den sie wie ein Säugling an die Lippen presst. Auch als die Mutter die Tür aufschließt und ins Zimmer tritt, rührt sich das Mädchen nicht.
    »Weckt sie auf«, befiehlt die Mutter.
    »Wie alt ist sie?«, fragt Olena.
    »Ihr sollt sie nur aufwecken.«
    »Sie ist ja noch ein Kind. Wie alt ist sie – zwölf? Dreizehn?«
    »Alt genug zum Arbeiten.« Die Mutter geht auf das Feldbett zu und schüttelt das Mädchen. »Los, komm«, schnauzt sie es an und reißt die Decke weg. »Du schläfst schon viel zu lange.«
    Das Mädchen regt sich und dreht sich auf den Rücken. Da erst sehe ich die blauen Flecken an ihrem Arm. Sie schlägt die Augen auf, sieht, dass wir sie anstarren, und sofort spannt sich ihr zerbrechlicher Körper vor Schreck an.
    »Lass ihn nicht warten«, sagt die Mutter.
    Wir hören, wie ein Wagen sich dem Haus nähert. Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, und als ich zum Fenster hinausschaue, sehe ich Scheinwerfer zwischen den Bäumen aufblitzen. Reifen knirschen auf dem Kies, als das Auto in die Auffahrt biegt. Der erste Freier des Abends, denke ich mit Schrecken, doch die Mutter schaut uns nicht einmal an. Sie packt das neue Mädchen am Handgelenk und zerrt es hoch. Mit verschlafenen Augen wankt das Mädchen aus dem Zimmer.
    »Wo haben sie nur so ein junges Ding aufgetrieben?«, flüstert Katya.
    Wir hören den Türsummer. Es ist ein Geräusch, das wir fürchten gelernt haben, weil es die Ankunft unserer Peiniger verkündet. Wir alle verstummen und lauschen auf die Stimmen unten in der Halle. Die Mutter begrüßt einen Freier auf Englisch. Der Mann spricht nicht viel; wir hören nur ein paar Worte von ihm. Dann vernehmen wir seine schweren Schritte auf der Treppe, und wir weichen von der Tür zurück. Doch er geht an unserem Zimmer vorbei und weiter den Flur entlang.
    Aus dem Erdgeschoss dringen die heftigen Proteste des Mädchens zu uns. Wir hören ein lautes Klatschen, dann Schluchzen. Und dann stampfende Schritte auf der Treppe, als die Mutter das Mädchen zu dem Zimmer schleift, in dem der Freier wartet. Die Tür knallt, und die Mutter geht wieder. Das Mädchen bleibt allein mit dem Mann zurück.
    »Dieses Rabenaas«, murmelt Olena. »Sie wird in der Hölle schmoren.«
    Aber heute Abend werde wenigstens ich nicht leiden müssen.
Ich fühle mich schuldig, kaum dass der Gedanke mir durch den Kopf geschossen ist. Und doch ist er da, dieser Gedanke.
Besser sie als ich.
Ich gehe zum Fenster und starre in die Nacht hinaus, in die Dunkelheit, wo niemand meine Schande sehen kann. Katya zieht sich eine Decke über den Kopf. Wir alle bemühen uns, nicht hinzuhören, aber selbst durch die geschlossenen Türen können wir die Schreie des Mädchens hören, und wir können uns ausmalen, was er mit ihr macht, denn das Gleiche ist auch uns schon angetan worden. Nur die Gesichter der Männer wechseln; nicht die Schmerzen, die sie uns zufügen.
    Als es vorbei ist, als die Schreie endlich verstummen, hören wir den Mann die Treppe hinuntergehen und das Haus verlassen. Ich atme tief durch. Hoffentlich war’s das, denke ich. Hoffentlich war das der letzte Freier für heute.
    Die Mutter kommt wieder die Treppe herauf, um das Mädchen zu holen, und dann ist es eine ganze Weile merkwürdig still. Plötzlich rennt sie an unserer Tür vorbei und wieder nach unten. Wir hören, wie sie jemanden mit ihrem Handy anruft. Aufgeregtes Flüstern. Ich sehe Olena an, frage mich, ob sie versteht, was hier läuft. Aber Olena erwidert meinen Blick nicht. Sie sitzt gebeugt auf ihrem Feldbett, die Hände im Schoß zu

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