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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Fäusten geballt. Draußen fliegt etwas am Fenster vorbei wie eine weiße Motte, die im Wind flattert.
    Es hat zu schneien begonnen.
     
    Das Mädchen hat nichts getaugt. Sie hat dem Freier das Gesicht zerkratzt, und er war sehr wütend. So ein Mädchen ist schlecht fürs Geschäft, und deshalb wird sie in die Ukraine zurückgeschickt. Das hat die Mutter uns gestern Abend erzählt, nachdem das Mädchen nicht mehr ins Zimmer zurückkam.
    Das ist zumindest ihre Version.
    »Vielleicht stimmt es ja«, sage ich, und mein Atem ist eine Dampfwolke in der Dunkelheit. Olena und ich sitzen wieder auf dem Dach. Heute Abend glitzert es im Mondschein wie eine Torte mit Zuckerguss. Am Abend hat es geschneit, zwar höchstens ein, zwei Zentimeter, aber es genügt, um mich an die Heimat denken zu lassen, wo bestimmt schon seit vielen Wochen Schnee liegt. Ich bin froh, die Sterne wiederzusehen, mit Olena den Anblick dieses Himmels genießen zu können. Wir haben beide unsere Decken mit nach draußen genommen, und wir hocken eng aneinander geschmiegt da.
    »Wenn du das wirklich glaubst, bist du dumm«, sagt Olena. Sie zündet sich eine Zigarette an, die letzte von der Party auf dem Boot, und sie raucht sie genüsslich und blickt zu den Sternen auf, als wollte sie dem Himmel für das Geschenk des Tabaks danken.
    »Warum glaubst du es nicht?«
    Sie lacht. »Vielleicht verkaufen sie dich an ein anderes Haus oder an einen anderen Zuhälter, aber nie und nimmer schicken sie dich nach Hause. Und sowieso glaube ich der Mutter kein Wort, dieser alten Hure. Kannst du dir das vorstellen – sie ist früher selbst auf den Strich gegangen, vor ungefähr hundert Jahren. Bevor sie so fett geworden ist.«
    Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Mutter jemals jung oder schlank gewesen sein soll oder dass je ein Mann sie verführerisch gefunden haben könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einmal eine Zeit gegeben haben soll, als sie noch nicht abstoßend war.
    »Es sind die kaltblütigen Huren, die später irgendwann selbst ein Haus führen«, erklärt Olena. »Die sind noch schlimmer als die Zuhälter. Sie weiß, wie wir leiden, sie hat es selbst durchgemacht. Aber jetzt geht es ihr nur noch ums Geld. Viel Geld.« Olena tippt die Asche ab. »Die Welt ist böse, Mila, und daran kann kein Mensch etwas ändern. Alles, was du tun kannst, ist zu versuchen, am Leben zu bleiben.«
    »Und nicht böse zu sein.«
    »Manchmal hast du keine Wahl. Du musst es einfach sein.«
    »Du könntest nie böse sein.«
    »Woher willst du das wissen?« Sie sieht mich an. »Woher willst du wissen, was ich bin oder was ich getan habe? Glaub mir, wenn es sein müsste, würde ich auch jemanden umbringen. Ich könnte sogar dich umbringen.«
    Sie starrt mich an, ihre Augen funkeln wild im Mondlicht. Und für einen Moment – nur für einen kurzen Moment – glaube ich, dass es stimmt, was sie sagt. Dass sie mich umbringen
könnte;
dass sie alles tun würde, um zu überleben.
    Wir hören das Geräusch von Reifen, die über den Kies rollen, und wir schnellen beide hoch und erstarren.
    Olena drückt sofort ihre kostbare, erst halb gerauchte Zigarette aus. »Verdammt, wer kann das sein?«
    Ich springe auf und krieche vorsichtig die flache Dachschräge hinauf, um über den First hinweg in die Auffahrt zu spähen. »Ich kann keine Lichter sehen.«
    Sie klettert mir nach und wirft selbst einen Blick über den First. »Da«, murmelt sie, als sich ein Wagen aus dem Wald nähert. Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet, und wir sehen nur das schwache gelbe Leuchten des Standlichts. Der Wagen hält am Rand der Auffahrt, und zwei Männer steigen aus. Sekunden später hören wir den Türsummer. Selbst zu dieser frühen Stunde haben Männer ihre Bedürfnisse. Und die verlangen nach Befriedigung.
    »Mist«, zischt Olena. »Jetzt werden sie sie wecken. Wir müssen zurück ins Zimmer, bevor sie uns vermisst.«
    Wir rutschen wieder die Dachschräge hinunter und nehmen uns nicht einmal die Zeit, unsere Decken zu schnappen, sondern klettern sofort auf das Fenstersims. Olena schlüpft durchs Fenster in die dunkle Dachkammer.
    Wieder ertönt der Türsummer, und wir hören die Stimme der Mutter, als sie die Haustür aufschließt und ihre neuen Kunden begrüßt.
    Ich klettere hinter Olena durchs Fenster, und wir laufen zur Luke. Die Leiter ist noch ausgeklappt, ein verräterischer Hinweis auf unser Versteck. Olena steigt schon die Sprossen hinunter, als sie plötzlich mitten in der Bewegung

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