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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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die Augen, kämpfe gegen die Übelkeit an.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Das bete ich mir wohl tausendmal vor, um die Schläge und Schreie zu übertönen, um nicht hören zu müssen, wie sie die Mutter foltern.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
    Als ihre Schreie schließlich verstummen, sind meine Hände ganz taub, und ich klappere vor Kälte mit den Zähnen. Ich hebe den Kopf und spüre eisige Tränen auf meinen Wangen.
    »Sie gehen«, wispert Olena.
    Wir hören, wie die Haustür sich knarrend öffnet, hören Schritte auf der Veranda. Von unserem Beobachtungsposten auf dem Dach können wir verfolgen, wie sie die Auffahrt hinuntergehen. Diesmal sind sie mehr als nur verschwommene Silhouetten; sie haben das Licht im Haus brennen lassen, und im Schein der hell erleuchteten Fenster können wir die beiden schwarz gekleideten Männer sehen. Der eine bleibt stehen, und im Lichtkegel der Außenbeleuchtung blitzt sein kurz geschnittenes blondes Haar auf. Er dreht sich zum Haus um, dann hebt er den Blick zum Dach. Ein paar entsetzliche Herzschläge lang glaube ich, dass er uns sehen kann. Aber das Licht blendet ihn, und wir bleiben im Schatten verborgen.
    Sie steigen in ihren Wagen und fahren davon.
    Lange Zeit rühren wir uns nicht vom Fleck. Der Mond gießt sein kaltes Licht über uns aus. Die Nacht ist so still, dass ich das Rauschen des Blutes in meinen Adern hören kann, das Klappern meiner Zähne. Schließlich beginnt Olena, sich zu regen.
    »Nein«, flüstere ich. »Was ist, wenn sie noch da draußen sind? Wenn sie uns beobachten?«
    »Wir können nicht die ganze Nacht auf dem Dach bleiben. Wir werden erfrieren.«
    »Warte nur noch ein bisschen länger. Bitte, Olena!«
    Aber schon klettert sie vorsichtig die Dachschräge hinunter, zurück zum Dachbodenfenster. Ich habe panische Angst, allein zurückzubleiben; mir bleibt keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Als ich durchs Fenster steige, ist sie schon durch die Luke geschlüpft und steigt die Leiter hinunter.
    Ich will schreien:
Bitte, warte auf mich!,
aber ich habe zu viel Angst, ein Geräusch zu machen. So klettere auch ich die Sprossen hinunter und folge Olena auf den Gang hinaus.
    Sie ist am Treppenabsatz stehen geblieben und blickt nach unten. Erst als ich neben ihr stehe, erkenne ich, was sie so zur Salzsäule erstarren ließ.
    Katya liegt tot auf der Treppe. Ihr Blut hat sich über die Stufen ergossen wie ein dunkler Wasserfall; sie scheint wie eine Schwimmerin, die sich kopfüber in den dunklen See am Fuß der Treppe stürzt.
    »Schau nicht ins Schlafzimmer«, sagt Olena. »Sie sind alle tot.« Ihre Stimme ist tonlos. Nicht mehr die eines menschlichen Wesens, sondern die Stimme einer Maschine, kalt und neutral. Diese Olena kenne ich nicht, und sie macht mir Angst. Sie geht die Treppe hinunter, wobei sie dem Blut und der Leiche geschickt ausweicht. Als ich ihr folge, gelingt es mir nicht, den Blick von Katya zu wenden. Ich sehe die Stelle, wo die Kugel ein Loch in den Rücken ihres T-Shirts gerissen hat, des Shirts, das sie jede Nacht trägt. Es hat ein Muster aus gelben Gänseblümchen und trägt die Aufschrift BE HAPPY. Oh, Katya, denke ich; jetzt wirst du nie mehr das Glück finden. Am Fuß der Treppe, wo sich das Blut in einer Lache gesammelt hat, sehe ich die Abdrücke von großen Schuhen und die Spuren, die sich von hier bis zur Haustür ziehen.
    Da erst registriere ich, dass die Tür nur angelehnt ist.
    Ich denke:
Lauf weg!
Raus aus dem Haus, die Verandastufen hinunter und in den Wald hinein. Das ist unsere Chance zu fliehen, das ist unser Fenster zur Freiheit.
    Aber Olena flüchtet noch nicht gleich aus dem Haus. Stattdessen wendet sie sich nach rechts, ins Esszimmer.
    »Wo willst du hin?«, flüstere ich.
    Sie gibt keine Antwort, sondern geht weiter in die Küche.
    »Olena«, flehe ich sie an, während ich hinter ihr herhaste. »Lass uns jetzt verschwinden, bevor …« Ich bleibe in der Tür stehen und schlage die Hand vor den Mund, weil ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen. Die Wände und der Kühlschrank sind mit Blut bespritzt. Mit dem Blut der Mutter. Sie sitzt auf einem Stuhl am Küchentisch, und die blutigen Überreste ihrer Hände sind vor ihr ausgestreckt.
    Olena geht an ihr vorbei durch die Küche in das dahinter liegende Schlafzimmer.
    So überwältigend ist mein Wunsch zu fliehen, dass ich denke, ich sollte gleich jetzt loslaufen, ohne Olena. Und sie sich selbst überlassen, was immer der irrsinnige Grund

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