Scheintot
innehält.
Die Mutter schreit.
Olena blickt durch die Luke zu mir hinauf. Im Halbdunkel unter mir sehe ich die Panik in ihren Augen aufblitzen. Wir hören einen dumpfen Schlag, das Geräusch von splitterndem Holz. Schwere Schritte kommen die Treppe heraufgestampft.
Die Schreie der Mutter steigern sich zu einem schrillen Kreischen.
Ohne zu zögern, klettert Olena wieder die Sprossen herauf und stößt mich zur Seite, als sie durch die Luke steigt. Sie langt durch die Öffnung nach unten, packt die Leiter und zieht. Die Leiter klappt zusammen, und die Luke schließt sich.
»Zurück!«, flüstert sie. »Aufs Dach!«
»Was passiert denn da?«
»Geh einfach, Mila!«
Wir laufen zurück zum Fenster. Ich steige zuerst durch, aber in der Eile rutsche ich mit dem Fuß vom Sims ab. Ein schluchzender Laut dringt aus meiner Kehle, als ich falle und mich im letzten Moment verzweifelt am Fensterbrett festklammere.
Olenas Finger umfassen mein Handgelenk. Sie hält mich mit aller Kraft fest, während ich halb tot vor Schreck über dem Abgrund baumele.
»Fass meine andere Hand!«, flüstert sie.
Ich greife danach, und sie zieht mich hoch, bis ich mit dem Oberkörper über dem Fensterbrett hänge. Mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust.
»Musst du dich auch so verdammt tollpatschig anstellen?«, zischt sie.
Ich finde wieder Halt und klammere mich mit verschwitzten Händen am Fensterrahmen fest, während ich mich zum Ende des Simses vorarbeite und wieder aufs Dach steige. Hinter mir schlüpft Olena hinaus, macht das Fenster hinter sich zu und klettert mir nach, geschmeidig wie eine Katze.
Im Haus brennt jetzt Licht; wir sehen den gelblichen Schein, der aus den Fenstern unter uns fällt. Und wir hören Schritte, das Krachen einer Tür, die aufgestoßen wird. Und einen Schrei – nicht die Mutter diesmal. Einen einzigen, durchdringenden Schrei, der jäh abbricht und einer schrecklichen Stille weicht.
Olena rafft die Decken zusammen. »Los!«, sagt sie. »Kletter ganz rauf aufs Dach, wo sie uns nicht sehen können!«
Während ich mich an den Bitumenschindeln bis zum First hinaufhangele, verwischt Olena mit ihrer Decke die Fußspuren, die wir auf dem Sims hinterlassen haben. Dasselbe wiederholt sie an der Stelle, wo wir gesessen haben, bis sie schließlich alle Spuren unserer Anwesenheit beseitigt hat. Dann klettert sie zu mir herauf, auf den First über dem Dachbodenfenster. Dort kauern wir wie zwei zitternde Tauben.
Plötzlich fällt es mir siedend heiß ein. »Der Stuhl!«, flüstere ich. »Wir haben den Stuhl unter der Luke stehen lassen!«
»Jetzt ist es zu spät.«
»Wenn sie ihn sehen, wissen sie, dass wir hier oben sind.«
Sie fasst meine Hand und drückt so fest zu, dass ich glaube, die Knochen müssten brechen. Im Dachgeschoss ist gerade das Licht eingeschaltet worden.
Wir schmiegen uns eng ans Dach, wagen nicht, uns zu rühren. Ein Knarren, das Geräusch von herabrieselndem Schnee, und der Eindringling wird sofort wissen, wo wir sind. Ich spüre, wie mein Herz gegen die Schindeln schlägt, und ich bin mir sicher, dass er es durch die Decke hören kann.
Das Fenster wird hochgeschoben. Ein Augenblick vergeht. Was sieht er, wenn er hinausschaut? Den Rest eines Fußabdrucks auf dem Sims? Eine verräterische Spur, die Olenas hektisches Wischen mit der Decke nicht hat auslöschen können? Dann wird das Fenster wieder geschlossen. Ich stoße einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, aber sogleich graben sich Olenas Finger wieder in meine Hand. Eine Warnung.
Er könnte immer noch da sein. Er könnte immer noch lauschen.
Wir hören einen heftigen Schlag, gefolgt von einem Schrei, den auch das geschlossene Fenster nicht dämpfen kann. Ein derart entsetzlicher Schmerzensschrei, dass mir der Schweiß ausbricht und ich am ganzen Leib zu zittern beginne. Ein Mann ruft etwas auf Englisch.
Wo sind sie? Es müssen sechs sein! Sechs Huren.
Sie suchen nach den fehlenden Mädchen.
Die Mutter schluchzt jetzt, sie bittet und fleht. Sie weiß es wirklich nicht.
Wieder ein dumpfer Schlag.
Der Schrei der Mutter geht mir durch Mark und Bein. Ich halte mir die Ohren zu und presse das Gesicht auf die eisigen Schindeln. Ich ertrage es nicht, ihre Qualen mit anzuhören, doch ich habe keine Wahl. Es hört nicht auf. Die Schläge, die Schreie scheinen nicht enden zu wollen, und ich beginne schon zu glauben, dass sie uns bei Sonnenaufgang hier auf dem Dach finden werden, die Hände an den Schindeln festgefroren. Ich schließe
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