Scheintot
sehe ich, dass er hinkt. Er zieht das linke Bein leicht nach, und einmal, als er sich umblickt, sehe ich sein schmerzverzerrtes Gesicht. Aber er kämpft sich weiter voran im schwachen Licht des Morgengrauens.
Endlich erspähe ich zwischen den Bäumen vor uns einen verfallenen Hof. Als wir näher kommen, kann ich erkennen, dass hier niemand mehr wohnt. Die Fenster sind zerbrochen, und das Dach ist an einer Seite eingefallen. Aber Joe geht nicht auf das Haus zu, stattdessen steuert er die Scheune an, die nicht minder einsturzgefährdet scheint. Er öffnet ein Vorhängeschloss und schiebt das Scheunentor auf.
Drinnen steht ein Wagen.
»Hab mich immer gefragt, ob ich ihn je brauchen würde«, sagt er, als er sich ans Steuer setzt.
Ich steige hinten ein. Auf der Rückbank liegen eine Decke und ein Kissen, und zu meinen Füßen stehen Konservendosen. Genug Proviant für mehrere Tage.
Joe dreht den Zündschlüssel um, und der Motor erwacht stotternd zum Leben. »Ich gehe ja nur äußerst ungern hier weg«, sagt er. »Aber vielleicht wird es Zeit, mal für eine Weile zu verreisen.«
»Tun Sie das für uns?«, frage ich ihn.
Er sieht mich über die Schulter an. »Ich tue das, um mir Ärger vom Leib zu halten. Denn davon scheint ihr zwei Ladys mir eine gewaltige Portion beschert zu haben.«
Er lenkt den Wagen rückwärts aus der Scheune, und wir fahren rumpelnd den ungeteerten Feldweg entlang, vorbei an dem baufälligen Bauernhaus, an einem stillen Teich. Plötzlich hören wir einen dumpfen Donnerschlag. Sofort hält Joe an, dreht sein Fenster herunter und blickt sich zu dem Wald um, den wir gerade hinter uns gelassen haben.
Schwarzer Rauch hängt über den Wipfeln, wallt in einer gewaltigen Säule in den heller werdenden Himmel auf. Ich höre Olena erschrocken aufschreien. Meine Hände schwitzen und zittern, als ich an die Hütte denke, die wir eben erst verlassen haben und die jetzt ein Raub der Flammen ist. Und ich denke an brennendes Fleisch. Joe sagt nichts; er starrt nur in entsetztem Schweigen die Rauchwolken an. Ich frage mich, ob er in diesem Moment sein Pech verflucht, das ihn uns über den Weg geführt hat.
Nach einer Weile atmet er tief aus. »Mein Gott«, murmelt er. »Wer immer diese Leute sind, sie meinen es verdammt ernst.« Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Ich weiß, dass er Angst hat, denn ich sehe, wie seine Hände das Lenkrad umklammern. Ich sehe, dass seine Knöchel ganz weiß sind. »Ladys«, sagt er leise, »ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir verschwinden.«
20
Jane schloss die Augen und ließ sich auf dem Wellenkamm des Schmerzes treiben wie eine Surferin.
Bitte, lass es schnell vorbei sein. Es soll aufhören, aufhören!
Sie spürte, wie ihr der Schweiß übers Gesicht lief, während die Wehe ihrem Höhepunkt zustrebte und sie so fest in ihrem Klammergriff hielt, dass sie nicht einmal mehr stöhnen, nicht einmal mehr atmen konnte. Hinter ihren geschlossenen Lidern schien das Licht schwächer zu werden, und das Tosen ihres eigenen Pulsschlags dämpfte alle Geräusche. Nur undeutlich registrierte sie die Unruhe im Zimmer. Ein Klopfen an der Tür. Joes nervöse Fragen.
Dann schloss sich plötzlich eine Hand um ihre. Die Berührung war warm und vertraut.
Das kann nicht sein, dachte sie, während die Wehenschmerzen schon nachließen und der Schleier sich nach und nach von ihren Augen hob. Sie fixierte das Gesicht, das auf sie herabblickte, und verharrte reglos vor Verwunderung.
»Nein«, flüsterte sie. »Nein, du darfst nicht hier sein.«
Er nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände, drückte die Lippen auf ihre Stirn, ihr Haar. »Es wird alles gut, mein Schatz. Alles wird gut.«
»Das ist das Blödeste, was du je gemacht hast.«
Er lächelte. »Du hast doch gewusst, dass ich nicht der Hellste bin, als du mich geheiratet hast.«
»Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich habe an dich gedacht. Nur an dich.«
»Agent Dean«, sagte Joe.
Langsam richtete Gabriel sich auf. Wie oft hatte Jane ihren Ehemann schon angeschaut und sich gedacht, wie glücklich sie sich schätzen konnte, ihn gefunden zu haben, aber noch nie so sehr wie in diesem Augenblick. Er war unbewaffnet, war in der schwächeren Position, doch als er sich Joe zuwandte, strahlte er nur ruhige Entschlossenheit aus. »Ich bin hier. Werden Sie jetzt meine Frau gehen lassen?«
»Nachdem wir uns unterhalten haben. Nachdem Sie sich angehört haben, was wir zu sagen haben.«
»Ich höre.«
»Sie müssen
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