Scheintot
meine entsetzte Miene sieht. »Es ist nur so, dass ich heute Abend lieber eine Knarre in Reichweite habe.«
Wir hören ein Läuten wie von einer kleinen Glocke.
Bei dem Geräusch schnellt der Kopf des Mannes hoch. Mit dem Gewehr in der Hand tritt er ans Fenster und späht in den Wald hinaus. »Da ist gerade etwas über den Sensor gelaufen«, sagt er. »War vielleicht nur irgendein Tier. Andererseits …« Er harrt noch eine ganze Weile am Fenster aus, die Hand am Abzug. Ich erinnere mich an die zwei Männer, die uns an der Tankstelle nachgeschaut haben. Die unser Kennzeichen aufgeschrieben haben. Inzwischen müssen sie herausgefunden haben, wem der Wagen gehört. Und damit kennen sie auch die Adresse.
Der Mann geht zu einem Holzstapel, nimmt ein neues Scheit und wirft es ins Feuer. Dann setzt er sich in einen Schaukelstuhl, legt die Flinte quer über den Schoß und betrachtet uns. Im Kamin knistert das Holz, und Funken tanzen über den Flammen.
»Ich heiße Joe«, sagt er. »Und jetzt sagt mir, wer ihr seid.«
Ich sehe Olena an. Keine von uns sagt etwas. Obwohl dieser merkwürdige Fremde uns heute Abend das Leben gerettet hat, haben wir immer noch Angst vor ihm.
»Seht mal, ihr habt es selbst so gewählt. Ihr seid in mein Auto eingestiegen.« Sein Schaukelstuhl knarrt auf dem Holzfußboden. »Jetzt braucht ihr euch auch nicht mehr zu zieren, Ladys«, sagt er. »Die Würfel sind gefallen.«
Als ich aufwache, ist es draußen noch dunkel, doch das Feuer ist bis auf die Glut heruntergebrannt. Das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor ich eingenickt bin, sind die Stimmen von Olena und Joe, die sich leise unterhielten. Jetzt kann ich Olena im schwachen Schein des Kamins neben mir auf dem geflochtenen Teppich schlafen sehen. Ich bin immer noch wütend auf sie und habe ihr die Dinge, die sie mir an den Kopf geworfen hat, nicht verziehen. Ein paar Stunden Schlaf haben mir Klarheit über das Unvermeidliche verschafft. Wir können nicht für immer zusammenbleiben.
Das Knarren des Schaukelstuhls zieht meinen Blick an; ich sehe das schwache Schimmern von Joes Gewehr, und ich spüre, dass er mich beobachtet. Wahrscheinlich sieht er uns schon eine ganze Weile beim Schlafen zu.
»Weck sie«, sagt er zu mir. »Wir müssen jetzt los.«
»Warum?«
»Sie sind da draußen. Sie haben das Haus die ganze Zeit beobachtet.«
»Was?« Ich rappele mich hastig hoch, und mein Herz pocht plötzlich wie wild, als ich ans Fenster eile. Aber draußen sehe ich nichts als dunklen Wald. Dann bemerke ich, dass die Sterne schon verlöschen. Die Nacht wird bald dem Morgengrauen weichen.
»Ich glaube, sie parken immer noch unten an der Straße. Sie haben die nächste Reihe von Bewegungsdetektoren noch nicht überschritten«, sagt er. »Aber wir müssen uns jetzt auf den Weg machen, bevor es hell wird.« Er steht auf, geht zu einem Schrank und nimmt einen Rucksack heraus. Der Inhalt, was immer es sein mag, klirrt metallisch. »Olena«, sagt er und stößt sie mit der Stiefelspitze an. Sie regt sich und blickt zu ihm auf. »Zeit zu gehen«, sagt er. »Wenn dir dein Leben lieb ist.«
Er führt uns nicht zur Vordertür hinaus. Stattdessen hebt er einige Bodenbretter an, und aus dem Dunkel darunter steigt der Geruch von feuchter Erde auf. Er klettert rückwärts die Leiter hinunter und ruft uns zu: »Auf geht’s, Ladys.«
Ich reiche ihm die Einkaufstasche der Mutter und steige ebenfalls durch die Luke. Er hat eine Taschenlampe eingeschaltet, und im Halbdunkel erhasche ich einen Blick auf Stapel von Kisten vor einer Steinmauer.
»In Vietnam hatten die Dorfbewohner Tunnel wie diesen hier unter ihren Häusern«, erklärt er, als er uns einen niedrigen Gang entlangführt. »Sie dienten in erster Linie als Vorratslager. Aber manchmal retteten sie ihnen auch das Leben.« Er bleibt stehen, schließt ein Vorhängeschloss auf. Nachdem er seine Taschenlampe ausgeschaltet hat, hebt er eine hölzerne Klappe über seinem Kopf an.
Wir steigen aus dem Tunnel und finden uns im dunklen Wald wieder. Die Bäume hüllen uns ein, als er uns vom Haus wegführt. Wir sprechen kein Wort; wir würden es nicht wagen. Wieder einmal folge ich blindlings einem andern, immer der Fußsoldat, nie der General. Aber diesmal vertraue ich der Person, die mich führt. Joe geht mit ruhigen Schritten voran, er strahlt die Sicherheit eines Mannes aus, der genau weiß, wo es langgeht. Ich halte mich dicht hinter ihm, und als die Morgendämmerung den Himmel zu erhellen beginnt,
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