Schenk mir deinen Atem, Engel ...
kein Mensch!
Ein leises, nach tropfendem Wasser klingendes Geräusch ließ Alice zusammenzucken. Sie wirbelte herum – und erstarrte.
Was, zum Teufel …?
Sie hatte sich nicht getäuscht. Das, was da aus dem Meer auf sie zugekrochen kam – ein scheußliches Monstrum, schleimig und von Tentakeln übersät, die sich um seinen massigen Leib wanden –, war definitiv kein Mensch.
All ihre Sinne schrien ihr zu, wegzulaufen. Doch es war, als hätte sie die Kontrolle über ihren Körper verloren. Und als der Wille zu überleben endlich über die Schockstarre siegte, war es längst zu spät. Sie spürte, wie etwas sich um ihren Fußknöchel wand und sie erbarmungslos in Richtung Meer zog.
Ihre verzweifelten Schreie verhallten ungehört. Wenige Sekunden später schlug das Wasser über ihrem Kopf zusammen und erstickte jeden Laut.
4. KAPITEL
Liebes Tagebuch,
leider bin ich gestern Abend nicht mehr dazu gekommen, noch etwas zu schreiben, wie ich es sonst immer vor dem Schlafengehen mache. Aber ich war einfach so geschafft! Gestern war ein anstrengender, aber auch wunderschöner Tag. Wir waren tagsüber am Strand und haben abends gut gegessen. Aber es ist auch Merkwürdiges passiert … Im Meer wäre ich fast ertrunken. Da war plötzlich etwas, das mich in die Tiefe gezogen hat … Und dann war da dieser Junge. Er sah so gut aus, und er hat mich gerettet. Niemand sonst hat ihn gesehen, nur ich. Erst habe ich schon geglaubt, ihn mir nur eingebildet zu haben, aber dann war er gestern plötzlich in meinem Zimmer. Er sagt, er heißt Jake, und er …
„Darling, kommst du dann bitte? Wir wollen gleich frühstücken!“
Faith verzog unwillig das Gesicht, als die Stimme ihrer Mutter von der Diele her erklang. Rasch legte sie den Stift zur Seite und packte ihr Tagebuch unters Kopfkissen. „Ich komme sofort“, rief sie und erhob sich seufzend von ihrem Bett. Es war halb zehn durch; Faith war schon vor einer ganzen Weile aufgestanden und hatte bereits geduscht und sich angezogen. Während Will schon in die Küche gegangen war, hatte sie es vorgezogen, noch etwas in ihr Tagebuch zu schreiben.
Vielleicht war es ganz gut, dass ihre Mutter sie unterbrochen hatte, denn immerhin wusste sie, dass Will hin und wieder einen Blick in ihr Tagebuch warf. Und wenn er lesen würde, was sie gerade über Jake hatte schreiben wollen, wäre das zweifellos ein gefundenes Fressen für ihn. Das hätte ihr nur jede Menge unbequemer Fragen eingebracht.
Sie verließ das Zimmer, und als sie kurz darauf die Küche betrat, duftete es dort schon so köstlich nach Rührei, dass Faith auf der Stelle das Wasser im Mund zusammenlief. Hungrig setzte sie sich zu ihrem Vater und Will an den Tisch und ließ sich von ihrer Mutter, die sogleich mit der Pfanne herbeigeeilt kam, den Teller vollladen.
Dann begann sie mit großem Appetit zu essen. Nach dem Frühstück war wie immer die Therapie an der Reihe. Oft war das eine sehr lästige Pflicht für Faith. An den Tagen, an denen sie darauf gar keine Lust hatte, war ihre Laune danach irgendwo in der Nähe des Nullpunktes angesiedelt. Heute aber war alles nicht so schlimm. Sie waren in den Ferien, und hier in Brighton war es einfach so schön, dass man kaum schlecht gelaunt sein konnte. Außerdem war Faith sowieso mit den Gedanken ständig ganz woanders. Und zwar bei einem Jungen, den sie gestern erst kennengelernt hatte.
Und von dem sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, nicht mal wusste, ob er überhaupt existierte.
Jake …
Seltsam. Er war zugleich so fremd und so vertraut. Und sie spürte deutlich, dass ihn etwas Dunkles umgab. Merkwürdigerweise hatte sie trotzdem keine Angst, wenn er bei ihr war. Nein, diese eigentümliche Aura faszinierte, fesselte sie. Und es fiel ihr schwer, in seiner Nähe einen klaren Gedanken zu fassen. So etwas war ihr bisher noch bei keinem anderen Jungen passiert. So ganz verstehen konnte sie sich selbst nicht.
„Wollen wir heute nicht mal zum Pier runterfahren?“, fragte ihr Vater, faltete seine Zeitung zusammen und musterte abwechselnd Faith und Will. „Brighton hat noch sehr viel mehr zu bieten als nur Sonne, Strand und Meer. Wusstet ihr schon, dass man die Stadt früher London by the Sea genannt hat? Weil es hier fast so viel zu sehen und zu erleben gibt wie bei uns zu Hause. Der Royal Pavillon beispielsweise ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Was ist? Habt ihr Lust?“
Obwohl sich bei Faith die Begeisterung in Grenzen hielt, winkte sie nicht gleich ab
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