Schenk mir deinen Atem, Engel ...
und wartete erst einmal, was Will sagte. Sie hatte die Standpauke ihrer Mutter nicht vergessen. Und vermutlich stimmte es tatsächlich, dass sie sich ihrem kleinen Bruder gegenüber oftmals ziemlich ungerecht und eklig verhielt.
Doch auch er schien an einer Stadtbesichtigung heute nicht interessiert zu sein. „Ich will lieber weiter an der Sandburg bauen, die Miles und ich gestern angefangen haben“, sagte er. Miles war ein Junge, den er gestern kennengelernt und mit dem er sich sofort angefreundet hatte. Wie es der Zufall wollte, wohnte er direkt im Bungalow nebenan.
„Bin dafür“, stimmte Faith ihm zu. „Die ganze Kultur-Kiste können wir abhaken, wenn wir nicht so tolles Wetter haben. Ein einziges Mal in meinem Leben möchte ich nicht blass und käsig aussehen. Ein einziges Mal!“
„Dann lass die Kinder doch machen“, mischte sich nun ihre Mutter ein. „Faith hat recht, wir sind ja noch eine Weile hier. Den Royal Pavillon können wir also auch später noch besuchen.“
Mr Moningham gab sich – wenn auch widerstrebend – geschlagen. „Na schön, wenn ihr alle meint …“
Faith nickte. „Nicht böse sein, Dad. Wenn du willst, können Mom und du ja schon mit dem Kulturprogramm anfangen. Will und ich kommen auch wunderbar allein zurecht, nicht wahr, Bruderherz?“
Wenn Will sich über das ungewohnte Entgegenkommen seiner Schwester wunderte, so ließ er es sich nicht anmerken. „Klar“, sagte er. „Wir sind schließlich keine Babys mehr.“
Und so kam es, dass Faith und ihr Bruder gleich nach ihrer morgendlichen Therapie allein zum Strand hinuntergingen, während ihre Eltern in entgegengesetzter Richtung – nämlich zur Bushaltestelle – flanierten.
„Wer zuletzt unten bei den Felsen ist, ist ein lahmer Esel“, rief Will und rannte sofort los.
Faith schluckte die gehässige Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Stattdessen rief sie: „Na warte, du Satansbraten! Du entkommst mir nicht!“
Eigentlich wusste sie, dass sie nicht die geringste Chance hatte, Will einzuholen. Er war viel flinker als sie, zudem ging ihm nicht schon nach wenigen Hundert Metern die Puste aus. Dass es ihr trotzdem gelang, konnte nur daran liegen, dass ihr kleiner Bruder sie absichtlich nachkommen ließ. Und als sie ein paar Minuten später lachend und völlig außer Atem nebeneinander im Sand lagen, dachte sie bei sich, dass es manchmal doch gar nicht so schlecht war, kein Einzelkind zu sein.
Mit der Absicht, Will einmal so richtig durchzukitzeln, rappelte sie sich auf – und erstarrte, als sie, halb hinter einem Felsen verborgen, einen bleichen Frauenarm erblickte, der aus dem Wasser ragte.
Schlagartig war ihre ausgelassene Stimmung verflogen.
„Geh zurück zum Bungalow“, sagte sie zu Will – und als er nicht sofort gehorchte, fauchte sie: „Du sollst zurückgehen, hab ich gesagt! Nun verschwinde schon!“
Verwirrt schaute er sie an. Faith war klar, dass er ihr seltsames Verhalten unmöglich verstehen konnte. Doch darauf vermochte sie jetzt keine Rücksicht zu nehmen. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihr kleiner Bruder bemerkte, was sie entdeckt hatte.
Sie unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen, als er sich schließlich mit einem letzten vorwurfsvollen Blick abwandte und zum Bungalow zurückging.
Faith atmete tief durch. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander. Vielleicht täuschst du dich ja, versuchte sie sich selbst Mut zuzusprechen. Vielleicht ist es nur eine alte Puppe oder ein Ast oder, oder, oder … Doch im Grunde glaubte sie selbst nicht daran.
Mit zittrigen Knien ging sie zum Wasser hinunter, das schon bald ihre Knöchel umspülte. In diesem Moment zogen die Wellen sich zurück und gaben den Blick frei auf das, was das Meer angeschwemmt hatte.
Faiths Augen wurden groß.
Nein! Oh Gott, nein!
Sie stolperte so hastig zurück, dass sie hinfiel und rücklings im Wasser landete. Sofort rappelte sie sich wieder auf und lief auf ein junges Paar zu, das mit einem Terrier-Mischling am Strand entlangspazierte.
„Bitte“, rief sie mit belegter Stimme. „Haben Sie ein Handy? Ich muss die Polizei alarmieren – dort unten im Wasser liegt eine Tote!“
„Jetzt beruhigst du dich erst einmal und atmest tief durch, in Ordnung? Wir sind ja jetzt hier. Komm, trink einen Schluck Wasser. Hier, nimm.“
Dankbar nahm Faith das Glas entgegen, das ihre Mutter ihr reichte, und trank einen Schluck des herrlich kühlen Wassers.
Es waren knapp zwei Stunden vergangen, seit
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