Schenkel, Andrea M
Plastiktüte und schüttet den Inhalt neben mir auf das Bett. Was macht er da? Eine Mixtur aus Pülverchen, Wasser und Zitronensaft. Mit dem Feuerzeug erhitzt er das Ganze im Esslöffel. Zieht es in der Spritze auf.
»Faust! Tut gar nicht weh!«
Er spritzt wirklich gut, das muss man ihm lassen. Er sitzt neben mir auf dem Bett. Nimmt mich in den Arm, hält mich fest.
Die Fingerspitzen und Zehen werden heiß, langsam erhitzen sich auch Arme und Füße. Die Hitze rast durch den Körper, hinauf zur Brust, und sammelt sich im Kopf. Ich glühe! Ich bin überrascht, es tut nicht weh, es schmerzt nicht, im Gegenteil, es ist ein angenehmes Gefühl. Wie eine Welle, die sich im Wasser aufbaut und dann immer schneller zum Land hin ausläuft, bricht. Die Wärme wechselt in ein Gefühl der Weichheit, alles wird leichter, innen und außen.
Ich habe das Gefühl, mich vom Boden loslösen zu können, ich kann aufsteigen, schweben, die Schwerkraft überwinden. Ich habe die Augen fest geschlossen und doch ist alles hell, fast grell. Aber es ist trotzdem angenehm. Alles ist bunt, von einer unglaublichen Farbigkeit. Rotes Licht am Rand, dann wechseln sich hellere und dunklere Farbtöne ab, laufen in einem Halbkreis auf die Bildmitte zu. In der Mitte ein tiefes Blau.
Das Blau wird heller, wäscht sich aus, eine Bühne wird sichtbar.
Ein Baum, eine Weide aus Pappmaché mit bunten Blättern steht mitten auf der großen Bühne. Nebel verzieht sich langsam. Zwei Personen sind auf der Bühne. Eine, die kleinere, liegt, die zweite, erwachsene, steht daneben.
Was ist es, ein Schauspiel, eine Oper? Der Schauspieler formt den Mund zu einer Schnute, öffnet ihn weit, zeigt seine Zähne. Alles geschieht ganz langsam. Ich warte auf einen Laut, aber es kommt nichts. Ich kann sehen, dass der Darsteller singt. Kein Ton, nichts ist zu hören. Stimmt nicht, da ist ein Geräusch. Zuerst ganz leise, dann immer stärker ansteigend, ein Wimmern aus dem Orchestergraben. Der Ton schwillt an, wird lauter, klingt ab, um erneut anzusteigen. Ich sitze in der ersten Reihe, gleich hinter dem Orchestergraben. Ich beuge mich nach vorne, luge über die Brüstung. Alle Stühle des Orchesters sind leer. Nur seitlich vom Dirigentenpult sitzt ein Musiker im Frack. In weit ausholenden Bewegungen streicht er mit dem Geigenbogen über die stumpfe Seite einer riesigen Fuchsschwanzsäge. Die Säge zwischen seine Knie eingeklemmt, mit der freien Hand hält er sie am oberen Ende fest, drückt sie in einem leichten Bogen nach unten. Sein Blick sehr ernst, fast andächtig.
Ich lehne mich wieder zurück. Blicke erwartungsvoll zur Bühne. Die kleinere, liegende Person ist mit einem Laken bekleidet, der Bauch mit grellroter Farbe bespritzt. Auch ein Ohr leuchtet in grellem Rot. Nun fängt auch sie an, tonlos zu singen. Ich erkenne es an den Bewegungen seiner Lippen, sehe die Anstrengung in der Mimik des Sängers. Der Liegende zeigt wiederholt mit einer Hand auf den Bauch, mit der anderen auf den anderen Schauspieler.
Der Stehende weist mit erhobenen Armen alles von sich. Mit übertriebenen Gesten und mit weit aufgerissenen Augen. Die Gesichter erinnern mich an antike tönerne Schauspielermasken. Bunt bemalt. Ich kenne sie aus den Vitrinen des städtischen Museums. Die Beleuchtung ändert sich, nun sieht der Größere aus wie ein Indianer mit Kriegsbemalung. An beiden Seiten des Schädels längs verlaufende Streifen.
Der Vorhang fällt. Im Graben legt der Musiker Bogen und Säge beiseite, holt aus seiner Jackentasche eine rote Banane, beginnt bedächtig die Schale abzuziehen, und während er zu mir hochblickt, verspeist er sie langsam. Er blickt zur Uhr, legt schnell die Schale beiseite, greift Instrument und Bogen und beginnt erneut mit der schauderhaften monotonen Melodie.
Der Vorhang öffnet sich. Die gleiche Szene noch einmal, nur diesmal bricht die musikalische Begleitung während der Szene ab. Der Musiker ist eingeschlafen, erst der fallende Vorhang weckt ihn. Er schreckt hoch, springt auf. Emsig inspiziert er sein Musikgerät. Er setzt sich wieder hin. Die Schauspieler kommen auf die Bühne, verneigen sich tief.
Mein Klatschen hallt einsam wieder, ich blicke mich um, ich bin der einzige Zuschauer. Ich beuge mich über die Brüstung, sehe hinunter in den Orchestergraben. Der Musiker verneigt sich ganz tief vor mir. In der einen Hand hält er den Bogen, in der anderen die Säge. Er nimmt Säge und Bogen in die linke Hand und fängt an, mit der freien Hand zu
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