Schenkel, Andrea M
winken.
Nebel sammelt sich auf dem Bühnenboden, fließt träge über den Rand hinunter in den Orchestergraben. Hüllt den Musiker ein, verschluckt ihn. Alles wird blau, verfärbt sich an den Rändern hin rötlich, geht langsam über in ein leuchtendes Rot.
Mir ist übel.
Ich öffne die Augen, sehe die Holzdecke über dem Bett.
Eingewickelt in einem Schlafsack liege ich im Fiesta. Das Seitenfenster ist heruntergekurbelt, ich atme den Geruch des Waldes. Ich habe gewartet, bis sie eingeschlafen ist. Erst dann bin ich aus der Mühle raus, den Weg am Teich entlang hinüber zum Wagen. Die letzten zwei Nächte bin ich schon hier geblieben, fällt eh niemandem auf. Niemand wartet auf mich. Ich schlafe gerne bei offenem Fenster. Das war das Schlimmste am Knast. Sich einen Raum mit vier anderen teilen zu müssen. Die Luft in den Zellen war abgestanden und stickig. Die Leuchtkörper der Neonröhren mit roten Antragsscheinen abgeklebt, um das grelle Licht zu dämpfen. Wecken um sechs Uhr morgens. Das Schlagen der Kostklappen. Alles plötzlich mit Lärm erfüllt. Wenn du dich schlafend stellst, kommen die Wärter, schlagen mit den Schlüsseln an die metallenen Bettgestelle, reißen die Bettdecken fort. Danach aufstehen, warten auf das Frühstück. Ein halber Liter Muckefuck, Kaffee konnte man das Gebräu nicht nennen. Schwarzbrot, Marmelade. Honig und Nougatcreme nur alle zwei Wochen. Wenn dich einer nicht leiden konnte, schüttete er dir den heißen Kaffee über die Finger oder gleich ganz neben den Becher. Du konntest dich nicht wehren, dich nicht beschweren. Hast du es doch getan, bist du ausgerutscht in der Dusche … Oder es setzte nach acht Uhr Schläge, dann, wenn nach dem Einschluss der ›richtige Vollzug‹ anfängt. Heraushalten, Maul halten. Schauen, wie man in der Hierarchie nach oben rückt. Der sein, der den anderen den Kaffee über die Finger schüttet, der sein, der die Schläge austeilt oder die Hausarbeit einteilt. Maul halten, mitmachen. Dich hocharbeiten.
Bei Kinderfickern klappt das nicht, die bleiben unten. Einer muss immer da sein, der getreten wird. Es gibt immer einen, den auch du treten kannst. Von Vater hatte ich gelernt, das Maul zu halten. Hatte gelernt, dass es besser ist, wie die drei Affen dazusitzen. Nichts sehen. Nichts hören. Nichts sagen.
Ich könnte unten im Bunker schlafen. Ich will das nicht, es ist mir unangenehm. Ich bin lieber hier im Auto. Der Bunker war Vaters Reich. Immer habe ich das Gefühl, er beobachtet mich, wenn ich dort unten bin. Kann unten nicht schlafen. Unten ist es wie im Knast, die Luft ist abgestanden, es ist dunkel. Das Gefühl, sich nicht frei bewegen zu können, ist das Schlimmste. Deshalb hab ich sie auch nach oben in Mutters Zimmer gebracht. Der Raum ist viel heller und freundlicher.
Sie ist wie Mutter, sie erinnert mich an Mutter. Sie kann auch nicht alleine sein. Wie Mutter hat sie mich angefleht, sie nicht alleine zu lassen. Wie Mutter.
Mutter hat sich an Vater gehängt, hat ihn gebeten, sie nicht alleine zu lassen. Sie nicht wieder einzusperren in der Mühle. Er hat sie geschlagen und weggestoßen. Ich habe ihre Schreie gehört, bin unten gesessen in meinem Versteck.
Ich habe gehört, wie sie sich wieder gestritten haben, wie er sie wieder geschlagen hat. Habe gehört, wie sie ihn angefleht hat. Aber Vater ist gegangen, hat sie alleine gelassen.
Und dann war auch sie weg. Später habe ich herausgefunden, dass sie sich aufgehängt hat in der Mühle, weil sie es nicht mehr ertragen konnte. Nach drei Tagen Eingesperrtsein hatte sie sich aufgehängt.
Nein, ich bin nicht so ein Schwein wie er. Ich will nicht so ein Arschloch sein. Ich bleibe hier, ich lasse sie nicht alleine. Sie braucht mich. Sie braucht mich, wie Mutter mich brauchte, wenn Vater sie geschlagen hat, und wie Mutter mich gebraucht hätte, als Vater sie in die Mühle einschloss.
Das Skalpell gleitet wieder in das Gewebe. Neu auftretende Blutungen werden sofort verödet. Fettbürzel quellen hervor. Immer weiter arbeitet sich der Chirurg in die Tiefe. Tastet sich mit den behandschuhten Händen vor, dringt tief in den Bauchraum ein.
»So, Leute. Die Muskulatur wird jetzt durchtrennt, dann, nach dem Bauchfell, geht’s dem Darm an den Kragen!« Der Chirurg lacht. Hebt den Kopf, sieht seinen jungen Kollegen kurz an. Die OP-Maske verdeckt das Gesicht, lässt keine Mimik erkennen.
Breite silbrig glänzende metallene Wundhaken werden eingesetzt. Der Assistent umfasst die Haken, spreizt die
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