Schenkel, Andrea M
ich nicht, nein! Hör auf, mich hier rauszuziehen. Die Hand umgreift mich, als wäre ich ein kleiner Vogel. Ich will hier bleiben. Lass los, nein!
Ich sehe die Holzdecke, die blöde Holzdecke. Wie oft bin ich aufgewacht und hab diese dreckige Holzdecke gesehen. Ich versuche die Bettdecke wegzuschieben. Blöde Decke. Die Hände sind dick eingewickelt, und das Pochen fängt auch schon wieder an. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Der Schmerz zieht sich die ganzen Arme entlang. Verdammte Scheiße, es soll aufhören! Ich will weg.
Der Typ sitzt neben mir auf dem Bett. Grinst. Mein Gott, bin ich erschrocken. Ich schaue schnell wieder zur Decke, habe keine Lust, mich mit dem grinsenden Typen zu unterhalten. Was will der Kerl von mir? Er soll mir helfen.
Mir wird schlecht. Ich habe plötzlich einen furchtbaren Druck im Magen. Alles zieht sich zusammen. Ich habe diesen Kloß im Hals, ich will nicht spucken.
»Mir ist schlecht!« Im Schwall kommt es aus mir heraus. Ich kotze alles voll, das Bett, den Typen, alles. Immer wieder, ich würge, habe das Gefühl, mein Magen dreht sich um. Alles tut weh. Die Seiten stechen. Mir ist, als kommt mein Magen mit hoch, als würden sich alle meine Eingeweide losreißen, und ich kann nicht aufhören zu speien, ehe mein Körper ganz leer ist. Immer wieder muss ich würgen, obwohl gar nichts mehr kommt.
Erschöpft lasse ich mich nach hinten auf das Kissen fallen. Ich bin nass vom kalten Schweiß. Mein Magen hört nicht auf, sich zusammenzuziehen. Erst nach Minuten beruhigt er sich langsam.
Von den Gesichtern des OP-Teams sind nur die Augen zu sehen, alles andere ist verdeckt durch Mundschutz und Haube. Der Chirurg trägt eine Hornbrille. Die dicken Gläser der Brille lassen die Augen unnatürlich groß erscheinen. Die Hände durch sterile Einmalhandschuhe geschützt, fährt der Chirurg mit Zeige- und Mittelfinger in die Wunden des Bauchraumes. Konzentriert sich ganz auf seinen Tastsinn. Sein Blick ist dabei nicht auf die eingelieferte Person gerichtet, er sieht teilnahmslos geradeaus in den Raum. »Der untere Stich hat das Bauchfell nicht durchdrungen, du kannst nachher hier zunähen, wir brauchen uns nur um den oberen zu kümmern!«
Der Chirurg raunt diesen Satz dem Assistenten zu, der ihm gegenüber am OP-Tisch steht, ohne diesen anzusehen. Er lässt sich das Skalpell reichen. Erweitert den Schnitt etwa zwei Zentimeter nach oben und nach unten. Der junge Arzt gegenüber beobachtet jeden Handgriff genau, nickt eifrig mit dem Kopf.
Das scharfe Skalpell fährt nur leicht über die Haut, dennoch klafft sofort ein sichtbarer Spalt. An drei bis vier Stellen tritt hellrotes Blut hervor, teils in einem dünnen spritzenden Strahl. Mit Kompressen wird es schnell aufgesaugt, mit einem elektrischen Brenner die Blutungsquellen verödet. Kleine Rauchwölkchen steigen auf, Verbrennungsgeruch dringt in die Nasen der Umstehenden. Die Blutungen stehen.
»Essen steht auf dem Tisch! Deine Klamotten liegen am Bettende. Sind noch feucht, ich habe sie gewaschen. So gut es geht.«
Er hat meine Hände frisch verbunden, meine Klamotten gewaschen, Essen gemacht und den Tisch gedeckt. Was will der eigentlich von mir? Er hat mich überfallen, geschlagen, hierher verfrachtet und hält mich hier gefangen. Ist er ein normaler Krimineller? Warum hat er mich dann mitgenommen? Das macht keinen Sinn. Das war kein Zufall. Er folgt einem Plan. Er muss geplant haben, mich mitzunehmen. Ist er ein Perverser? Einer, der Frauen entführt, quält und gefangen hält? Wie kam er an das Foto? Er muss in meiner Wohnung gewesen sein. Aber warum? Klar, er hat mich ausspioniert. Alles passt zu Hans. Hans, der sich rächen will. Er hat es auf mich abgesehen und nicht auf das Geld. Der Überfall war nur vorgetäuscht und der eigentliche Sinn und Zweck des Ganzen ist meine Entführung! Das Foto spricht dafür, warum sonst das Foto? Das Foto. Das ist der Schlüssel. Ich muss es aus ihm herausbekommen. Aber wie?
Indem ich mit ihm spreche, eine Verbindung zu ihm aufbaue. Je stärker die Verbindung zwischen uns ist, desto schwieriger wird es für ihn, mich umzubringen, mich einfach verschwinden zu lassen. Umgekehrtes Stockholm-Syndrom, sozusagen. In der Zeitung stand ein Artikel darüber. Aber will er mich einfach verschwinden lassen? Er hat meine Hände verarztet, wäscht, kocht. Vielleicht will er beides, sich rächen und das Geld?
Im Augenblick bin ich von ihm abhängig. Ich kann mich nicht mal alleine anziehen, essen, nicht
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