Scherben der Ehre
allein genügen schon, um mich diese Schilderung in Frage stellen zu lassen.«
»Was für physische Befunde?«, fragte Cordelia, einen Moment lang verdutzt.
»Die Spuren von Folterung«, erwiderte die Ärztin und sah grimmig, sogar ein bisschen böse drein. Nicht böse auf sie, erkannte Cordelia.
»Was? Ich bin nie gefoltert worden!«
»Ja doch. Es wurde in Ihrem Bewusstsein ausgezeichnet verdrängt. Das ist empörend – aber die Barrayaraner konnten nicht die physischen Spuren verbergen. Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie einen gebrochenen Arm hatten, zwei gebrochene Rippen, viele Quetschungen an Ihrem Hals, Ihrem Kopf, Ihren Händen und Armen – tatsächlich an Ihrem ganzen Körper?
Und Ihre Biochemie – Zeichen von extremem Stress, sensorischer Deprivation, beträchtlicher Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Adrenalinüberschuss – soll ich weitermachen?«
»Och«, sagte Cordelia, »das.«
»Och, das«, sagte die Ärztin wie ein Echo und hob die Augenbrauen.
»Das kann ich erklären«, sagte Cordelia eifrig. Sie lachte erleichtert. »In gewisser Hinsicht kann ich da vermutlich euch Escobaranern die Schuld daran geben. Ich befand mich während des Rückzugs in einer Zelle auf dem Flaggschiff. Es bekam einen Treffer ab – da wurde alles in dem Schiff herumgeschüttelt wie Kies in einer Schachtel, auch ich in meiner Zelle.
Dabei habe ich meine Knochenbrüche und so weiter abbekommen.«
Die Ärztin machte eine Notiz. »Sehr gut. Wirklich sehr gut. Raffiniert. Aber nicht raffiniert genug – Ihre Knochen wurden bei zwei verschiedenen Gelegenheiten gebrochen.«
»Oh«, sagte Cordelia. »Und wie erkläre ich Bothari, ohne Vorkosigans Kabine zu erwähnen?«
»Ein Freund versuchte mich zu erdrosseln …«
»Ich möchte gerne«, sagte Dr. Sprague vorsichtig, »dass Sie über die Möglichkeit einer medikamentösen Therapie nachdenken. Die Barrayaraner haben bei Ihnen eine ausgezeichnete Verdrängung erreicht, sogar noch besser als bei der anderen, und bei ihr musste man wirklich sehr tief sondieren. Ich denke, bei Ihnen ist es sogar noch notwendiger. Aber wir brauchen dazu Ihre freiwillige Mitarbeit.«
»Gott sei Dank.« Cordelia legte sich auf ihr Bett, zog ihr Kissen über ihr Gesicht und dachte über eine Therapie mit Drogen nach. Es ließ ihr das Blut gefrieren. Sie fragte sich, wie lange sie eine Tiefensondierung nach nicht vorhandenen Erinnerungen aushielte, bevor sie anfangen würde, welche zu fabrizieren, um dem Verlangen zu entsprechen. Und schlimmer: der allererste Effekt der Sondierung würde darin bestehen, jene geheimen Qualen ans Licht zu bringen, die in ihren Gedanken ganz oben waren – Vorkosigans geheime Wunden … Sie seufzte, nahm das Kissen von ihrem Gesicht und hielt es mit den Armen vor ihrer Brust umfasst, dann blickte sie auf und sah, dass Sprague sie mit tiefer Besorgnis betrachtete. »Sie sind noch da?«
»Ich werde immer da sein, Cordelia.«
»Das ist es ja gerade, was ich befürchtet habe.« Sprague bekam danach nichts mehr aus ihr heraus. Cordelia fürchtete sich jetzt davor zu schlafen, aus Angst, dass sie im Schlaf sprechen oder sogar ausgefragt werden könnte. Sie machte dann und wann ein kleines Nickerchen und schreckte daraus hoch, wann immer sich etwas in der Kabine bewegte, zum Beispiel, wenn ihre Zimmergenossin in der Nacht aufstand, um auf die Toilette zu gehen. Cordelia billigte Ezar Vorbarras geheime Absichten in dem vergangenen Krieg nicht, aber zumindest waren sie verwirklicht worden.
Der Gedanke, dass all der Schmerz und all das Sterben völlig umsonst gewesen sein sollte, quälte sie, und sie entschloss sich, nicht zuzulassen, dass aufgrund ihres Verhaltens Vorkosigans Soldaten, ja nicht einmal Vorrutyer und der Lagerkommandant für nichts und wieder nichts gestorben sein sollten.
Am Ende der Reise war sie in schlimmerem Zustand als am Beginn: sie schwebte am Rande eines echten Zusammenbruchs und war geplagt von pochenden Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, einem mysteriösen Zittern der linken Hand und einem beginnenden Stottern.
Die Reise von Escobar nach Kolonie Beta war viel leichter. Sie dauerte nur vier Tage, in einem betanischen Schnellkurier, der, wie Cordelia überrascht feststellte, speziell für sie geschickt worden war. Sie sah sich die Nachrichten auf dem Holovid in ihrer Kabine an. Sie wollte nichts mehr vom Krieg hören, aber zufällig schnappte sie eine Erwähnung des Namens Vorkosigan auf und konnte nicht widerstehen, dem nachzugehen, um
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