Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)
wusste, dass er nicht mehr tief graben musste, bis er auf den Schatz ihres Geheimnisses stieß. »Ich lass dich aber nicht in Ruhe.«
Vanessa reagierte nicht sofort, und als Thox sich nach vorne beugte, konnte er in ihrem verkrampften Gesicht ihren inn eren Kampf sehen. Dann plötzlich sah sie ihn an, und ihr stechender grüner Blick raubte ihm den Atem. »Warum sollte ich es dir erzählen? Ausgerechnet dir, wo ich nicht einmal mit Jonas darüber gesprochen habe?«
Thox war überrascht, dass Jonas nichts davon wissen sol lte, doch er glaubte ihr. Der Umgang mit ihrer inneren Zerrissenheit machte es offensichtlich, dass sie nicht oft darüber sprach. »Es war eine gute Entscheidung, ihm nicht alles von dir zu erzählen.«
»Aber warum dir? Nenne mir einen Grund, warum ich es ausgerechnet dir verr aten sollte.«
Thox lächelte müde. Das war so einfach. »Weil du es willst.«
Vanessa sah ihn an, ihre Augenbrauen entspannten sich, und dann lächelte sie. »Hast du Zeit?«
Thox wollte es nicht, doch er erwiderte ihr Lächeln. Es war das erste Mal seit vier Jahren, und er war sich nicht b ewusst gewesen, dass seine Muskeln dazu überhaupt noch imstande waren. »Zwei Tage«, antwortete er dann.
Vanessa atmete nervös aus und senkte den Blick. »Du hältst mich auch nicht für krank?«
Ihre Sorge machte ihn neugierig. Gleichzeitig kamen ihm all die Nachmittage in den Sinn, an denen Conny und Nicky auf grausamste Weise kleine Tiere im Wald abgeschlachtet hatten. Würde sie ihn für krank halten, wenn sie davon wüsste? »Das weiß ich nicht. Aber ich bin der Meinung, dass mich nichts mehr schockieren kann.«
Vanessa schloss ihre Augen. »Ich kann es kaum glauben, aber du hast mich i rgendwie überzeugt.« Sie atmete erneut tief durch, als versuche sie, die nötige Courage über ihre Lungen in ihrem Körper zu verteilen. Und dann begann Vanessa, mit offenen Augen und festem Blick, ihre Geschichte.
»Man könnte meinen, mir sei in der Kindheit Schlimmes w iderfahren. Aber das ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Andere wären vermutlich froh, mein Elternhaus gehabt zu haben. Nur ich nicht. Ärzte haben versucht, es auf die übliche Weise zu erklären und haben mich als Borderliner abgestempelt. Aber ich weiß es besser, wusste es schon immer, und ich leide nicht unter Borderline. Es gibt ein einfaches Wort, um zu beschreiben, was mich zu dem macht, wer ich bin.«
»Und was ist es?«
Wieder lächelte Vanessa, und es war ein trauriges Lächeln. »Weißt du es denn nicht? Hast du mich noch nicht durchschaut?«
Und plötzlich wusste er es. Es war so offensichtlich, und es wunderte ihn, dass er es nicht schon früher erkannt hatte. Aber vermutlich hatte er es sogar. Und hatte es sich zu Nu tzen gemacht. »Masochismus.«
Vanessa nickte. »Ja«, wisperte sie, aber ihre Augen glän zten feucht.
Thox konnte sich diese Offenbarung nicht erklären. »Wi eso?«, hörte er sich fragen, und es wunderte ihn selbst, worauf sich seine Frage überhaupt bezog. Wieso machte es sie so traurig? Wieso erzählte sie niemandem davon? Wieso schockierte ihn das nicht? Wieso …?
»Ich weiß es nicht«, erklärte sie und ließ die Kette seiner Fragen abreißen. »Und eigentlich … ich mag keine Schme rzen, verstehst du das? Sie tun weh und sie verschaffen mir keine Befriedigung – zumindest nicht sexuell. Aber das ist egal. Der physische Schmerz ist schnell vergessen, das hat das Gehirn schon so eingerichtet. Es ist etwas anderes. Das emotionale Gefühl dabei, das bleibt für immer. Ist man erst einmal infiziert, kann man niemals genug davon bekommen. Es ist wie eine Sucht. Es ist niemals genug.«
Thox raufte sich verwirrt die Haare. Er begriff ihre Worte, wusste, was sie sagte, und doch verstand er sie nicht. »Erkl äre mir das.«
Vanessa lächelte matt, dann zuckte sie die Achseln. »Ich weiß nicht einmal, ob ich das kann.«
Thox zögerte kurz, dann stand er auf, ging zu dem Bett und ließ sich neben ihr auf der Matratze nieder. Er wollte sie genau ansehen, in ihr Gesicht und ihre funkelnden Augen blicken, während sie ihm alles erzählte. Denn er wollte alles wissen. »Wie hat es angefangen?«
Vanessa biss sich auf die Unterlippe. War das etwa auch, um ihre Sucht zu stillen? »Ich bin mir nicht sicher, wann es ang efangen hat. Vielleicht war ich schon immer so. Bestimmt sogar, aber … als kleines Mädchen wurde ich irgendwie auf diese Schiene gedrängt. Zumindest habe ich den Eindruck … Werden wir das nicht alle? Nur, dass ich
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