Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)
er Vanessa ächzen, schreien, was auch immer es war, und er drückte seine Hand auf ihren Mund. Tief in seinem Inneren vergraben erwartete er ihre Zähne in seinem Fleisch, doch stattdessen spürte er seine Finger in ihrem warmen Mund. Doch es war ein Kampf, und er ging weiter, schmerzhaft bis zum letzten Moment, als ihm endlich aufging, was tatsächlich gerade passierte.
Aber da war es auch schon zu spät. Der alte Schmerz wich einem neuen, noch viel zerstörerischen Schmerz. Seine Gliedmaßen verkrampften sich und er spürte, wie sich seine Augen verdrehten, also schloss er sie. Und dann ließ er sich sinken, in die tiefe und dunkle Belanglosigkeit des Nichts.
Teil 3
THANK YOU VERY MUCH
Kapitel 13
14 Jahre früher als heute
Dienstag, 02. August
21:45 Uhr
N icky konnte nicht begreifen, was ihn so lange in seinem Zimmer gehalten hatte. Zwar war die Sonne noch nicht untergegangen, doch schwarze Gewitterwolken verdunkelten den frühen Abendhimmel. Er wusste nicht mehr, wie er den Weg nach Hause gefunden hatte, und das Erste, woran er sich erinnerte, war wie er in seinen Kleidern weinend unter der kalten Dusche gestanden und hatte.
Nun lag er in trockenen Klamotten auf seinem Bett, als der Regen begann. Große, schwere Tropfen hämmerten g egen das Fenster und erinnerten ihn mit jedem Klopfen an Stine.
An seine Schuld.
Beim ersten Donnerschlag sprang Nicky von seinem Bett auf, kletterte von seinen Eltern unbemerkt aus dem Fenster im ersten Stock und kehrte zurück in die Tiefe des Waldes, wo er Stine das letzte Mal gesehen hatte. Er hoffte inständig, dass Conny zumindest noch so viel Menschlichkeit gezeigt und Stine von ihren Fesseln befreit hatte – denn wenn nicht, und sie lag noch immer blind und stumm und bewegungsunfähig vor diesem alten Baum, dann war Conny die längste Zeit sein bester Freund gewesen. Nicky konnte ohnehin kaum begreifen, warum dieser Idiot ihn in diese abscheuliche Situation gebracht hatte, und es war vollkommen unverzeihlich, was er Stine antun wollte. Sein Hang zum Sadismus war einen gewaltigen Schritt zu weit gegangen. Und nun musste Nicky auch noch zum Ort seiner Schande, zu dem Ort, der ihn beinahe zu einem Sexualstraftäter gemacht hatte, zurückkehren, um sicherzugehen, dass es Stine gut ging. Das war das Mindeste, was er tun musste, und dafür würde er sich seiner Angst stellen.
Doch als er endlich bis auf die Knochen durchnässt und in dämmeriger Dunkelheit die Stelle an dem alten Baum gefu nden hatte, musste er einsehen, dass er zu spät war.
Stine ging es nicht gut.
Sie war tot. Aus leeren Augen starrte sie ihn an, als würde sie ihn anklagen. Sie lag noch immer da, beinahe in derselben Position, wie er sie zurückgelassen hatte. Das Klebeband war aus ihrem Gesicht entfernt worden und nun eng um ihren Hals gezogen. Ihr Faltenrock bedeckte ihre züchtig geschlossenen Schenkel, doch sonst sah sie aus wie noch vor ein paar Stunden.
Er hätte sie nie alleine lassen dürfen, war Nickys erster G edanke, als er unmittelbar vor ihrem leblosen Körper stehen blieb und auf sie herab blickte, als wäre es selbstverständlich, dass der Tod auf diese unauffällige Weise zu ihr gekommen war. Um von ihr Besitz zu ergreifen.
Und als er Stine da so liegen sah, als wäre sie ein zwar mo rbides, aber dennoch gut durchdachtes Kunstwerk, erkannte er plötzlich eine Wahrheit, die ihn bis tief ins Innerste erschütterte: Das war der Grund, warum er ihr nicht sofort zu Hilfe gekommen war. Vorhin, als er noch die Chance dazu gehabt hatte. Ihm war von Anfang an klar gewesen, wenn auch nicht bewusst, dass es so enden würde. Er hatte erkannt, dass die Situation, in die Conny sowohl ihn, sich selbst und auch Stine gebracht hatte, nur so gelöst werden konnte. Immerhin hatte Conny Stine entführt, sie gefesselt, womöglich sogar geschlagen, nur damit sich Nicky an ihr vergehen konnte. Vollkommen gleichgültig, was Nicky getan hätte, unter keinen Umständen wäre es möglich gewesen, sie einfach wieder gehen zu lassen. Nicht, ohne für ihr Tun bestraft zu werden. Stine hätte nicht geschwiegen, sie hätte allen erzählt, was sie getan hatten. Wahrscheinlich wäre sie sogar zur Polizei gegangen. Stine hatte zum Schweigen gebracht werden müssen. Nicky wusste das irgendwie von Anfang an, doch sein Unterbewusstsein hatte ihm verboten, dies zu erkennen. Und doch war es der Grund für sein Nichthandeln. Was war er bloß für ein Mensch? Er
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