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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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einer Reihe fest montierter blauer Stühle, wobei er sich gleichzeitig bemühte, einem der Sicherheitsbeam …
    »Mein Herr!«
    Eine gedämpfte Stimme hinter mir. Ich drehte mich zum Schalter um und sah, dass dieser von einer fleischigen, entfernt menschenähnlichen Gestalt ausgefüllt wurde, die offenbar aus demselben Stoff war, aus dem Gott früher Menschen modelliert und gemeißelt hatte. Er steckte in einer riesigen Uniform, die ihm trotzdem am Bauch zu eng war. Der Kopf des jungen Beamten hinter ihm wirkte dazu im Vergleich wie eine Weintraube. Der Anblick ließ mich erstarren.
    »Ist Ihnen bewusst, dass Ihr Transitvisum heute um Mitternacht abläuft?«
    Es kostete ihn Mühe, sich näher an die rechteckige Öffnung in der Scheibe zu beugen, um mich zu hören.
    Wenn du nicht bis zum allerletzten möglichen Augenblick bei mir bleibst, werde ich dir das übelnehmen , hatte Allison gesagt. Das war jetzt wirklich knapp.
    »Ja«, brachte ich heraus.
    »Was haben Sie für Pläne?«
    Den Text hatte ich auswendig gelernt.
    »Ich nehme von hier aus direkt den Bus nach Tuzla.«
    »Wann fährt er ab?«
    »Um halb fünf.«
    »Wie kommen Sie dorthin?«
    »Ich habe Verwandte hier. Die bringen mich zum Bus.«
    Er sah mich mit stumpfen Walfischaugen an. Ich versuchte es mit einem Lächeln. In meiner Kehle sammelte sich Spucke, während er mich mit seinem Blick durchbohrte. Hätte ich in dem Augenblick geschluckt, hätte er meine Lügen durchschaut. Aber ich schluckte nicht, und sein Blick fiel wieder auf meinen Reisepass.
    »Ist Ihnen bekannt, dass Ihre Nichtabreise aus Kroatien bis heute um Mitternacht zu Ihrer Inhaftierung und Deportation führen wird?«
    »Ja.«
    Er leckte sich über die Unterlippe und drückte mir vorsichtig, pedantisch seinen Stempel in den Pass.
    Dieses Mal wollte ich mit Zvonko oder Zana, den Cousins meiner Mutter, bei denen Mehmed und ich zu Beginn des Krieges gewohnt hatten, nichts zu tun haben, deshalb hatte ich Vedad und Neda Bescheid gesagt. Die Atmosphäre in ihrem kleinen Auto war stickig, fast schon klebrig – es roch nach einem Streit, der mir zuliebe unterbrochen wordenwar. Hasserfüllte Beschimpfungen hingen noch in der Luft und bedrängten mich von allen Seiten. Auf dem Rücksitz, die Hände auf den Knien, fühlte ich mich sofort wie eine Last, wie totes Gewicht. Sie herrschte ihn an, weil er zu rasch losgefahren war, hielt dann demonstrativ inne und wandte sich ab, sah aus dem Fenster. Ich begegnete seinem Blick im Rückspiegel, und Vedad verzog das Gesicht zu etwas, das ein Lächeln sein sollte. Seine Rolle war unverkennbar: der in Ungnade gefallene Ehemann.
    Ich hatte die beiden immer Tante und Onkel genannt, obwohl sie das gar nicht waren. Neda war eine Art Cousine väterlicherseits, aber eigentlich waren sie eher Freunde der Familie. Sie war eine schwermütige Frau mit Augen wie Ping-Pong-Bällen, die aus ihren Höhlen zu treten drohten, wenn sie überrascht war. Sie wirkte ausgehungert und alt, und man hätte glauben können, das sei der Tribut, den der Krieg forderte, aber sie hatte schon immer so ausgesehen. Ihr Ehemann war klein und korpulent, hatte schütteres Haar und das Lächeln eines Kobolds. Er trug eine nagelneue Uniform mit den Insignien der kroatischen Armee.
    »Ich wusste nicht, dass du bei der Armee bist«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
    »Ist er gar nicht«, sagte Neda fast wütend und blickte dann wieder weg. Das war das Einzige, was sie während der verbleibenden Fahrt sagte.
    Draußen sah es aus wie überall auf der Welt, Straßen und Gebäude, dicke Politikerköpfe, die verkniffen von geschmacklosen Wahlplakaten lächelten, Menschen, die unterwegs von A nach B waren und irgendwelche Sachen trugen, die stehenblieben, um sich Kaugummi von den Sohlen zu kratzen, Straßenbahnen, die Funken sprühten, Tauben, die von Kabeln herunterkackten.
    Vedad redete, um die Stille zu füllen, ging noch einmal durch, was ich zu den Beamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde sagen und was ich anziehen sollte, wie man nach den jüngsten Reaktionen gegen die Bosnier Übergriffe vermied und wie sehr ich meinem Onkel in Amerika dankbar sein musste für das, was er für mich tat. Er sprach davon, wo ich wohnen würde und wie meine künftige Vermieterin – eine gebürtige Bosnierin und Junggesellin – so war und dass ich sparsam mit dem Geld umgehen müsse. Das Ganze sollte väterlich und fürsorglich klingen, aber in seiner Stimme lag keinerlei Gefühl oder Betonung; er ging

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