Scherben
mir mitgegeben hatte. Der Auswurf-Knopf öffnete das Kassettendeck, die Kassette ließ sich einlegen, und play . Offspring. Ich hüpfte im Wohnzimmer herum, spielte ein bisschen Luftgitarre, fuhr drauf ab. Als ich die Kassette umdrehen wollte, öffnete die Auswurf-Taste das Deck nicht mehr. Ich probierte es mit jeder anderen Taste, aber vergeblich. Am Ende dachte ich, es müsse wohl eines dieser Decks sein, die aufgehen, wenn man dran zieht. Ich zog, und es gab nach. Ein winziges Rechteck aus schwarzem Plastik flog weg, klapperte seitlich gegen den Fernseher und landete geräuschlos auf dem Teppich. Ich wusste, ich war gearscht.
14. September 1995
Gestern hat mich Neda zum ICNC gefahren, damit ich einen Antrag auf Einwanderung nach Amerika stellen konnte. Sie hatte schlechte Laune, rannte vor mir her, als wollte sie mich abschütteln. Ich stellte mir vor, ich sei ein grüner Schleimklumpen an ihrem Mantel. Sie übergab mich den Angestellten dort und zog ab. Ich vermute, ich werde so schnell nichts mehr von ihr hören.
Die Leute beim ICNC waren aber nett, halfen mir mit den Formularen und setzten mir Erdnüsse vor. Ich gab ihnen alle Unterlagen zur Vervollständigung meiner Akte. Sie meinten, von jetzt an sei es ein Geduldsspiel. Ein Beamter des INS kommt einmal im Monat und führt Befragungen durch, und von ihm oder ihr hängt alles ab. Sie meinten, das letzte Mal sei erst vor zwei Tagen einer da gewesen, ich würde also einen Monat oder länger auf mein Gespräch warten müssen.
Im Hauptpostamt sprach ich zum ersten Mal mit Allison, und wir weinten. Ich buchstabierte ihr Minas Adresse, obwohl ich ihr schon einen Brief mit Absender geschickt hatte. Dann rief ich Onkel Irfan in Amerika an und gab ihm Minas Telefonnummer, damit er mich anrufen konnte. Er sagte: »Viel Glück, wir warten auf dich.« Ich kaufte was zu essen und eilte zurück in mein blaues Zimmer. Roßhalde von Hesse zu Ende gelesen und Peter Camenzind angefangen.
Mina kam mit besserer Laune von der Arbeit zurück. Sie hörte nicht auf, wegen ihrer Stereoanlage rumzujammern – dass sie ihrem Vater gehört und er sie ihr, als er starb, zusammen mit der Wohnung vermacht habe, und wie viel ihr diese kleinen Dinge bedeuteten –, aber sie sagte es mit weniger Groll, trauriger. Ich entschuldigte mich zum zigsten Mal.
Nach M.A.S.H. schmissen wir unsere Lebensmittel zusammen und aßen gemeinsam zu Abend. Ana sagte, ich dürfe mich in ihrem Zimmer aufhalten, wenn sie nicht da sei, und fernsehen. Die Sache mit ihrem Arm ist: Sie hat Krebs. Sie dachte, sie hätte ihn besiegt, aber er ist zurückgekommen und hat ihren Arm anschwellen lassen. Jetzt ist sie zur Behandlung in Zagreb. Es hat mich ein bisschen erschreckt. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.
Heute: Den ganzen Tag alleine in der Wohnung. Das Fernsehprogramm ist grauenhaft, genau wie in Bosnien: schlecht gemachte Marionetten, die ihre Münder zu schrecklichen Kinderliedern öffnen und schließen, und alles amateurhaft schlecht synchronisiert; eine Geschichtssendung nach der anderen, in der Soldaten in Schwarz-Weiß vorrücken, während ringsherum Granaten explodieren, sinkende Flugzeugträger, über denen kleine Flugzeuge wie Elektronen kreisen, Stukas, die den Himmel verdunkeln und Tod und Zerstörung in zylindrischer Form auskacken; ein Fettsack mit Zigarre, ein Krüppel und ein Mann mit einem riesigen Schnurrbart, die irgendwo auf einer Bühne sitzen und lachen. Dazwischen entweder grottenschlecht synchronisierte, rassistische Bugs-Bunny-Filme aus den Vierzigern und Fünfzigern, in denen Schwarze nicht mehr sind als riesige Lippen an winzigen Köpfen, die im Hintergrund Stepp tanzen; oder heimische Musikvideos mit schlechtem Rap ( sag »yo« zu Kroatien / sag »no« zum Krieg ) und noch schlimmerem Pop ( Starfucker, star-starfucker / starfucker, star-starfucker/ starfucker, starfucker / starfucker, starfucker, staa-ar ).
Ich ließ den Fernseher stumm weiterlaufen und las Peter Camenzind zu Ende und fing mit Gertrud an. Ich mag Hesse. Mir gefällt, dass die Welt in Büchern solide ist und sich das Leben der Figuren von Kapitel eins über Kapitel zwei und so weiter bis zum Ende voranbewegt. Das gefällt mir.
Mina gibt einfach keine Ruhe mit ihrer Anlage.
15. September 1995
Ich bin aus dem blauen Zimmer in Minas Schlafzimmer gezogen. Mina ist ins Wohnzimmer gezogen, wo ihr Fernseher steht. Ana ist geblieben, wo sie war. Mein neues Zimmer ist groß und kalt und ganz anders als das
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