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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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als ein Verhör. Sie betonte alles extra deutlich, als hätte ich ihr widersprochen und als müsste sie mich überzeugen. Ich konnte nicht anders, als ihr alles zu erzählen; ich hatte Angst, sie würde mich sonst mit einem Telefonkabel fesseln und mir Glasscherben unter die Nägel schieben, um mir zu entlocken, was ich ihr verschwieg. Zum Schluss wusste sie sogar über Allison Bescheid.
    »Das hält nicht«, sagte sie. »Du bist hier, sie ist dort, unddu willst noch weiter weg. Beiß die Zähne zusammen und gesteh dir ein, dass es nicht halten wird.«
    Du kennst uns nicht , dachte ich, nicht wirklich verletzt, sondern voller Mitleid mit ihr, weil sie alt war und alleine in einer Dreizimmerwohnung wohnte und nicht wusste, wie es ist, zu lieben und geliebt zu werden. Zu dem Zeitpunkt war ich schon ein bisschen abgestumpft gegenüber ihrer nassforschen Art, und so lächelte ich nur selbstgefällig und überließ es ihr, die Geste zu entschlüsseln.
    »Sei kein aufgeblasener Trottel«, sagte sie und stellte den Fernseher laut, in dem ein grüner Hubschrauber eine dürre Bergkette überflog und inmitten von Soldaten und Ärzten landete, die darauf warteten, ihre verletzten Kameraden abzuladen. Die Buchstaben M, A, S und H wurden eingeblendet, mit weißen Sternen dazwischen.
    »Das ist meine Lieblingsserie«, sagte sie knapp und rieb sich tatsächlich die Hände. Selbst wenn sie sich freute, betonte sie dies überdeutlich.
    Sie lachte über alles, was Alan Alda sagte, während ich höflich und gequält neben ihr saß, das verschlungene Muster auf dem Sofa mit dem Daumen nachzeichnete und an Allison dachte.
    Irgendwann kam jemand aus einem der Zimmer und ging ins Bad. Durch das trübe Milchglas in der Tür sah ich die verschwommene Gestalt, die vorüberglitt, schemenhaft. Fasziniert wartete ich auf die Toilettenspülung, aber ich hörte sie nicht. Stattdessen kam eine kurzhaarige Frau mit graumelierten Haaren ins Zimmer. Sie war um die vierzig und ging langsam und gebückt, so als würden wir schlafen und als wolle sie uns nicht aufwecken. Ich erhob mich, wie ich es beigebracht bekommen hatte.
    »Hab ich’s verpasst?«, fragte sie, ihr Gesicht lang vor Enttäuschung. Mir fiel auf, dass ihr rechter Arm dick verbundenwar und in einer Schlinge steckte, und dass er sich auf undefinierbare und seltsame Weise am Bizeps auswölbte.
    »Vielleicht die Hälfte«, sagte Mina, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. »Ana, das ist Ismet. Ismet, das ist Ana. Er ist der neue Mieter.«
    Sie beugte sich rüber und streckte mir ihre linke Hand hin. Ich schüttelte sie achtlos, und wir erklärten uns gegenseitig mit großen Augen, wie sehr wir uns freuten, einander kennenzulernen. Mina ermahnte uns, still zu sein, und drehte den Fernseher lauter. Ich setzte mich wieder und sah den Rest der Folge mit den beiden zusammen. Ich weiß nicht, wovon sie handelte, nur, dass ein Mann mit Adlernase, Haube und gepunktetem Kleid umherstolzierte und seine Vorgesetzten grüßte, was lustig war.
    Als ich in der blaustichigen Dunkelheit meines Zimmers lag und nicht einschlafen konnte, weil die Erinnerungen an Allison auf mich einströmten, starrte ich die gebrochenen roten Ziffern auf dem Wecker an und fragte mich, wieso etwas so Einfaches wie die Verwandlung einer 11:59 in eine 12:00 aus einer legalen Person eine illegale machen konnte.

    Aus Ismet Prcićs Tagebuch
    11. September 1995

    Schon wieder hatte ich den ganzen Tag dieses Werwolfgefühl, als wäre ich nicht der Einzige in meinem Körper oder meinem Kopf.
    Trotz Erschöpfung kann ich nicht schlafen. Mein Herzschlag lässt das ganze Bett wackeln.
    Meine Vermieterin heißt Mina. Mina ist GRUSELIG.

    12. September 1995

    Schlechter Tag. Mina hatte gerade einen Wutanfall, weil ich ihre Stereoanlage kaputt gemacht habe. Sie hat mich angefahren, ihre Augen wie Laser – ich zittere tatsächlich. Kurz dachte ich, sie würde mich rausschmeißen, aber sie hat nur die Wohnzimmertür zugeknallt und den Fernseher total laut gedreht. Meine Tür ist zu, aber ich kann trotzdem noch jedes Wort verstehen. Ich muss mich beruhigen.
    Hab den Tag damit verbracht, in der Wohnung rumzutigern, weil sie vergessen hat, mir einen Schlüssel dazulassen. Ana war auch nicht da. Nichts gegessen, nur einen schottischen Marsriegel, den ich noch in der Tasche hatte. Mina hat mir eingebläut, dass ihre Lebensmittel tabu sind.
    Im Versuch, mich von der Trübsal zu befreien, beschloss ich, eine der Kassetten zu hören, die Allison

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